Das Kaiserreich und die moderne Massendemokratie
Hedwig Richter
Die Zeit des Kaiserreichs war die Zeit der großen Inklusion – sie war die Zeit der Massenpolitisierung. Das ist nicht neu. Ich denke aber, dass es sich lohnt, das Phänomen der Massenpolitisierung als eine Grundlage der Demokratisierung zu verstehen – ohne freilich beides gleichzusetzen. Meine These ist, dass die Demokratisierungs- und Inklusionsprozesse in der Zeit des Kaiserreichs starke Exklusionsprozesse befördert haben: Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus, Militarismus, Misogynie.
Dabei plädiere ich dafür, die Exotisierung des Kaiserreichs kritisch zu reflektieren. Die Dynamik der Massenpolitisierung war ein internationales Phänomen; es war eine Zeit mit bisher nicht gekannten, intensiven transnationalen Vernetzungen – die Zeit der ersten Globalisierung! Die Menschen lebten im Gefühl des Aufbruchs.
Wenn wir auf die Exotisierung verzichten, treten die Jahrzehnte als eine Epoche in Erscheinung, mit einem bemerkenswerten internationalen Demokratisierungsschub. Eine der Grundlagen bildete dabei die Einführung eines weiten Männerwahlrechts um 1870. In Großbritannien wurde die Zahl der Wahlberechtigten verdoppelt. Frankreich wurde zur Dritten Republik. Deutschland führte 1867/71 ein allgemeines und gleiches Männerwahlrecht ein. Die Vereinigten Staaten folgten wenig später mit dem Männerwahlrecht auch für Afroamerikaner. Viele weitere Länder vergrößerten das Wahlvolk oder stärkten den Parlamentarismus. Der britische Liberale William Ewart Gladstone kommentierte: „You cannot fight against the future.“ Die Zukunft gehörte der Massenpartizipation.
Ein weiterer Vorteil des Verzichts auf Exotisierung des Kaiserreichs ist, dass dann eine der größten Emanzipationsbewegungen ins Licht rücken kann: die der Frauen, die in diesen Jahrzehnten an Fahrt aufnahm. Allzu häufig wurden die Frauen im Kaiserreich ausgeblendet oder als Opfer der Obrigkeit marginalisiert. Frauen betraten aber – verstärkt seit den 1890er Jahren – erstmals laut und vernehmbar die politische Bühne. Eine breite Forschung zeigt das seit langer Zeit, etwa die Arbeiten von Angelika Schaser, Ute Planert oder Kerstin Wolff. Mit einem internationalen Blick schließlich wird es auch eher gelingen, die problematischen Aspekte der Geschichte im nordatlantischen Raum und die dunklen Seiten der Demokratie besser in den Blick zu bekommen.
Meine Thesen will ich anhand von zwei Makroprozessen verdeutlichen, die in den Jahrzehnten um 1900 die Welt verändert haben: Erstens anhand des Wohlstandsanstieges, ermöglicht durch die Industrialisierung, zweitens anhand des steigenden Nationalismus. Beide sind Voraussetzungen für Demokratie – auch für ihre dunklen Seiten.
Zum ersten Punkt: zur Industrialisierung und dem Wohlstandsanstieg. Die kapitalistische Wirtschaft beutete die Menschen aus, und die materielle Ungleichheit errichte nie gekannte Höhen. Aber paradoxerweise stellte sie auch die demokratisierenden Ressourcen zur Verfügung. Bemerkenswert erscheint mir, dass die Industrialisierung den Mehrheiten zunehmend ein Leben in Würde ermöglichte. Wie lässt sich das erklärten? Offenbar war ein gewisser Wohlstandssockel für alle wichtiger als das Problem der Ungleichheit. Die Reallöhne stiegen selbst für die proletarische Klasse merkbar an. Hungersnöte waren mittlerweile undenkbar geworden. Kleidung, Nahrung, Wohnung – für die meisten Menschen sah das Leben besser aus als je zuvor. Die Lebenserwartung stieg, die Kindersterblichkeit sank merklich; Nahrung wurde günstiger und besser.
Für Demokratisierung ist der Wohlstandsanstieg nicht nur wichtig, weil er die Menschen aus der krassen Armut holte, sondern auch, weil er eine Vielzahl an partizipativen Praktiken überhaupt erst ermöglichte. So gab es nun Geld für die Produktion von Zeitungen, was für eine vielfältige Presselandschaft sorgte und für einen dichten Kommunikationsraum. Wichtig war auch die Beschränkung der Arbeitszeiten. 1900 wurde der Zehn-Stunden-Tag gesetzlich festgeschrieben, hinzu kam die verordnete Sonntagsruhe. Arbeiter hatten nun Zeit und Geld, sich Zeitungen zu kaufen und zu lesen; sie konnten abends in die Kneipe gehen und die neueste Parlamentsdebatte diskutieren. Für Arbeiterinnen blieb das Leben wesentlich schlechter und entbehrungsreicher. Und doch besserten sich alles in allem auch ihre Verhältnisse.
Wichtige Ursache für die Veränderungen war die Reformeuphorie der Zeit. Die „Soziale Frage“ war in aller Munde. Die großen Reformbewegungen, die damit zusammenhängen, sind entscheidend für die Demokratiegeschichte, denn sie legten wesentliche Wurzeln für den Sozialstaat. 1887 erfanden in Potsdam die Photochemiker Adolf Miethe und Johannes Gaedicke das Blitzlichtpulver. Mit dessen Hilfe ließen sich nun die Behausungen der unteren Schichten mitsamt ihrer düsteren Stimmung fotografisch festhalten. Wir alle kennen Schwarz-Weiß-Bilder von Berliner Hinterhöfen, und sie fehlen wohl in keinem Schulbuch über das Kaiserreich, um die Verarmung der Massen in dieser Zeit zu veranschaulichen. Damals trug neue Technik dazu bei, dem Bürgertum buchstäblich die Augen zu öffnen und ihm die ganze Not der unterbürgerlichen Schichten zu offenbaren.
Doch auch diese Fotografien waren ein weltweites Phänomen. Der Dänisch-amerikanische Journalist Jacob Riis zeigte in seinem Buch „How the Other Half Lives“ (1890) das Leben der Armen in New York. Zeitungen aller Couleur berichteten über Armut.
Für die USA wird diese Zeit als „Progressive Era“ oder Reform-Ära bezeichnet. Dieser Befund freilich ist für nahezu alle Staaten im nordatlantischen Raum wichtig. Dabei setzten die Inklusionsprozesse zwei Bewegungen in Gang: Es gerieten nicht nur die Massen in den Blick der oberen Schichten; vielmehr erfasste nun den Großteil der Bevölkerung selbst der Wunsch danach, Gerechtigkeit zu schaffen. Der Reformwille, den Armen zu helfen, demokratisierte sich nachgerade, wie es Gertrude Himmelfarb für Großbritannien nannte. Welche große Rolle dabei die Sozialdemokratie für Deutschland spielt, wird in der Tagung an anderer Stelle behandelt. Ich will hier aber darauf hinweisen und es besonders unterstreichen.
Die Bedeutung der Sozialdemokratie für die Massenpolitisierung kann ohnehin kaum überschätzt werden. Hier wird deutlich, dass der Wunsch nach Partizipation und Demokratisierung die Massen erfasst hatte. Die Arbeiter – und zunehmend auch die Arbeiterinnen – forderten Mitbestimmung ein, und zwar sehr erfolgreich. Die sozialen Reformen wären ohne den Druck der Sozialdemokratie in diesem Ausmaß nicht zustande gekommen. Die sozialdemokratischen Akteure und Akteurinnen wussten das, was das große Selbstbewusstsein der Partei erklärt.
Die neue Sichtbarkeit der Armut ließ die – unzutreffende – Vermutung aufkommen, elende Behausung und Armut seien neue Phänomene. Tatsächlich verbesserten sich aber alles in allem die Verhältnisse von den 1870er Jahren bis in die Vorkriegszeit. Armut wurde im Kaiserreich zum Skandal – und das mit Folgen. Die amerikanische Historikerin Paula Baker hat darauf verwiesen, dass das ein wichtiges Einfallstor für die Politik der Frauen bildete. Frauen insistierten darauf, dass ihre besondere Kompetenz im sozialen Feld lag: im Mitleid mit den Armen und also in der Armenarbeit, in der Pädagogik, in der Hygiene (auch das ein zentrales Themenfeld für die Reformzeit) oder in der Pädagogik. Diese Frauen domestizierten die Politik, also trugen dazu bei, die scheinbar weiblichen, häuslichen Themen in die Diskussion und ins Parlament zu bringen.
Frauen schufen sich immer mehr Vereine. 1894 wurde der überaus einflussreiche Dachverband „Bund Deutscher Frauenvereine“ gegründet. Nach neuesten Schätzungen hatte er vor dem Weltkrieg 500.000 bis 1 Million Mitglieder. Nie wieder, darauf hat Angelika Schaser verwiesen, würden sich so viele Frauen in Deutschland unter einem Dach organisieren. Auch schon lange vor 1908, als den preußischen Frauen de jure das Recht zugestanden wurde, sich auch politisch in Vereinen zu betätigen, gab es eine Bewegung für das Frauenwahlrecht. Insgesamt gilt: Erst durch politische Mobilisierung der Frauen gewann die Massenpolitisierung ihre volle Bedeutung. Frauen wurden erstmals zu einer hörbaren politischen Kraft. Auch wenn die politische Führung ihnen noch entscheidende politische und soziale Rechte verweigerte.
Ich komme zum zweiten Punkt, dem Nationalismus. Die Inklusionsprozesse wurden meistens durch das Konstrukt der Nation getragen oder doch gestärkt. Die nationale Idee erwies sich als eine wichtige Gleichmacherin: Jedermann hatte die Dignität, ein Deutscher (oder Franzose oder Italiener) zu sein, egal ob Adliger oder Bauer. Es lässt sich kaum überschätzen, wie wichtig das Konzept der Nation für die Gleichheitsidee war. Schließlich handelte es sich bei dieser Idee um ein Abstraktum, denn die Menschen lebten ja in einer Welt voller Ungleichheiten. Nation machte Gleichheit verständlich und pflanzte sie in den Alltag und in die Herzen der Menschen. Es ist also folgerichtig, dass sich die Konzepte von Bürger, Nation und Gleichheit Hand in Hand entwickelten, und kein Zufall, dass sich Demokratie im nationalstaatlichen Rahmen entfaltete.
In den Jahrzehnten um 1900 fanden diese Entwicklungen einen Höhepunkt. Nun galten viel mehr Menschen als je zuvor politisch als „gleich“. Weitgehend alphabetisiert erwiesen sich Arbeiter, Bauern oder Hausangestellte als politisierte, selbstbewusste Bürger. Die Massen drangen in immer weitere Bereiche vor. In Massenverbänden, Vereinen, in Petitionen, in Kneipendiskussionen, auf Demonstrationsmärschen mischten sich Männer und zunehmend auch Frauen in Politik ein und befeuerten die Zivilgesellschaft.
Dabei beförderte die Inklusion zugleich Exklusion der Anderen. Ein beträchtlicher Teil des Aufbruchs der Frauen ereignete sich bei den Konservativen und Nationalisten (auch hierin unterschieden sich die Deutschen kaum von anderen Nationen). Der Aufbruch der Frauen hätte niemals seine Größe erreicht, wenn er nur linke und liberale Frauen erfasst hätte. Dabei trug das Gemeinschaftsgefühl des Nationalismus wesentlich zur Politisierung der Frauen bei. Konservative und nationalliberale Frauen sahen sich als Speerspitze der Nation, deren „heiliges Erbe“, insbesondere dessen Homogenität sie verteidigen mussten. Birthe Kundrus spricht vom „Modernisierungspotenzial des Konservatismus“. Die Veränderung des Nationalismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts, die nicht zuletzt von nationalistischen und völkischen Frauen forciert wurde, ist vielfach analysiert worden. Vorstellungen von Nation wurden in ganz Europa rechter, radikaler – imperialer. Tatsächlich ist die erste Globalisierung ohne Nationalismus nicht denkbar.
Die Jahre um 1900 waren eine Aufbruchszeit der Inklusion – und zugleich des Hochimperialismus. Westliche Staaten, die sich selbst als den Gipfel der Zivilisation verstanden, raubten andere Territorien aus und erklärten andere Menschen für minderwertig. Der Nationalstaat, der die Massen integrierte und mobilisierte, wurde zu dem schlagkräftigen Instrument, das andere Erdteile überfallen und ausbeuten konnte. In Deutschland, in den USA und vielen weiteren Ländern des nordatlantischen Raums verband sich der Nationalismus zunehmend (aber längst nicht immer) mit einem biologistischen Rassismus. Dabei speiste sich der Nationalismus in seiner rassistischen Form zunehmend auch aus den antiliberalen Ressentiments, die seit der konservativen Wende immer lauter wurden und sich scharf gegen die Globalisierung wandten. Globalisierung – so die Kritiker – übe über Deutschland eine „latente Fremdherrschaft“ aus. Häufig wurde diese Kritik mit antisemitischen Verschwörungstheorien verbunden.
Entscheidend erscheint es mir, die dunklen Entwicklungen in der Zeit der Hochmoderne um 1900 nicht als genuin deutsches Problem zu exotisieren. Rassismus, Antisemitismus, Träume von Eugenik und reinem Blut, die Arbeit an einem gesunden Volkskörper und der Hass gegen das Andere gehören zur Geschichte des Westens – das ist keine neue Erkenntnis. Der Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus ging nicht aus einem absonderlichen, demokratiefeindlichen System hervor, sondern aus einer modernen Republik. Das schmälert nicht im Geringsten die Verantwortung der Deutschen an ihren Verbrechen. Im Gegenteil. Sie wussten 1933, was sie taten, und stolperten nicht als tumbe Untertanen in die Diktatur. Doch der Zweite Weltkrieg war nicht das Ende. Das Kaiserreich war nicht nur der Vorläufer des Nationalsozialismus, sondern auch der Vorläufer demokratischer Aufbrüche und partizipativer Möglichkeiten in der Weimarer Republik und in der Bundesrepublik, weil die Reformzeit auch in Deutschland den Boden für die Massendemokratisierung bereitet hatte.
Literatur:
Richter, Hedwig, Transnational Reform and Democracy. Election Reform in New York City and Berlin around 1900, in: Journal of the Gilded Age and Progressive Era 15 (2016), 149–175
Richter, Hedwig, Aufbruch in die Moderne. Reform und Massenpolitisierung im Kaiserreich, Berlin, erscheint 2021