Wahlrecht, Verfassung und politisches Verhalten

Christoph Nonn

Das Kaiserreich ist in der Geschichtsschreibung oft als eine Zeit gesehen worden, in dem die Fundamente für den Radikalnationalismus, Militarismus und Antisemitismus des „Dritten Reichs“ gelegt wurden. So zutreffend das sein mag, lässt sich doch mit guten Argumenten hinterfragen, ob darin das wichtigste Erbe der Kaiserzeit für die weitere deutsche Geschichte gelegen hat. Zwar sind die 1890er Jahre zweifellos die Inkubationszeit des radikalen Nationalismus in Deutschland gewesen. Radikal­nationa­lis­tische Organisationen konnten aber bis 1918 nur eine sehr kleine Minderheit der Deutschen als Mitglieder gewinnen. Die Deutschen des Kaiserreichs waren in dieser Zeit nicht nationalistischer als Briten, Franzosen oder US-Amerikaner. Militarismus war im Kaiserreich ebenfalls nicht weiter verbreitet als in Großbritannien, Frankreich oder den USA, und tatsächlich Zielscheibe von massiver Kritik und Spott. Antisemitismus war in Russland, Österreich-Ungarn oder auch Frankreich stärker ausgeprägt als im deutschen Kaiserreich. Gerade der internationale Vergleich macht zudem deutlich, dass es in allen diesen Bereichen starke Diskontinuitäten zwischen Kaiserreich und „Drittem Reich“ gegeben hat.

Anders verhält es sich im Bereich der politischen Mentalitäten. Das knappe halbe Jahrhundert zwischen der Reichsgründung 1871 und der Revolution von 1918 war die Zeit, in der die Deutschen politisch mündig wurden. Ein für die Verhältnisse der Zeit ausgesprochen demokratisches Wahlrecht zum nationalen Parlament ermöglichte zum ersten Mal allen er­wach­senen Männern dauerhaft die Teilnahme an Po­li­tik. Das Interesse daran nahm beständig zu. Die Wahlbeteiligung an den Reichstagswahlen stieg von anfänglich etwa 50 Prozent auf 85 Prozent vor 1914. Eine solche hohe Wahlbeteiligung hat es in der Bun­des­republik Deutschland seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben!

Diese Zahlen spiegeln eindrücklich wider, wie sehr der Reichstag in der deutschen Gesellschaft während des Kaiserreichs an Ansehen gewann. Er wurde im Lauf der Zeit zu dem wichtigsten Forum, in dem die Nation sich repräsentiert sah und über sich selbst verständigte – ganz entgegen den Intentionen der konservativen Eliten um Bismarck. Denn der hatte diese Funktion eigentlich der Vertretung der Fürsten, dem Bundesrat, zugedacht. Während der Bundesrat in der Gesellschaft kaum Aufmerksamkeit auf sich zog, genossen jedoch die öffentlichen Verhandlungen des Reichstags eine ungeheure Aufmerksamkeit. Sie dominierten die Schlagzeilen der entstehenden Massenpresse, waren Tagesgespräch und bewegten die Menschen in einem Ausmaß, das heute kaum noch vorstellbar ist.

Das politische System des Kaiserreichs begünstigte allerdings eine Mentalität der politischen Verantwortungslosigkeit. Denn mit dem ausgesprochen demokratischen Wahlrecht zum nationalen Parlament korrespondierte eine ausgesprochen undemokratische Verfassungsstruktur. Der Einfluss des Reichstags wuchs zwar im Lauf der Zeit. Die Kompetenzen des demokratisch gewählten Parlaments blieben bis 1918 aber immer noch relativ gering. Durch die Ver­wei­ge­rung des Budgets vermochte es als Ganzes Vorhaben der Exekutive vor allem Steine in den Weg zu legen. Die einzelnen Parteien konnten darüber hinaus durch Verhandlungen mit der Reichsleitung politische Geschäfte auf Gegenseitigkeit machen, indem sie von Fall zu Fall die Stimmen ihrer Abgeordneten gegen Zugeständnisse an die eigene Klientel ein­tausch­ten. Verantwortung übernehmen konnten – und mussten – sie aber nicht.

Im Lauf der Zeit arrangierten sich die meisten Parteien mit diesem System, das für sie manche Vorteile hatte. Denn es bot die Möglichkeit, Einfluss auszuüben und politisch mitzugestalten, ohne für die Resultate voll verantwortlich gemacht zu werden. Parteiführer, Aktivisten und Wähler gewöhnten sich an eine politische Praxis, die von Demagogie geprägt war. Im engeren Sinn demokratische Tugenden, wie die Bereitschaft zum Interessenausgleich durch Kompromiss, erlernten sie dagegen nicht. Die politischen Eliten kamen selten in die Verlegenheit, unpopuläre Entscheidungen gegenüber ihrer Klientel zu begründen. Und den Wählern wurde entsprechend selten zugemutet, Unvermeidliches zu akzeptieren oder selbst Verantwortung für ihr Gemeinwesen zu übernehmen. Eine verantwortungsvolle Zivilgesellschaft konnte so kaum entstehen.

Die im Reichstag vertretenen Parteien gewannen zwar im Lauf der Zeit an Macht. Diese Macht war aber nicht mit der Übernahme von Regierungsverantwortung verbunden. Das war ein politisches Arrangement, das den Interessen von Liberalen und Zentrumspartei wie auch ihrer Klientel durchaus entgegenkam. Und selbst eine Mehrheit der Sozialdemokraten zeigte sich lange weniger an Parlamentarisierung und konstruktiven Reformen als daran interessiert, durch demonstrative Fundamentalopposition die eigene Organisation zu konsolidieren und zu stärken.

Zu einem Zusammenschluss der nichtkonservativen Parteien, um die Position des Parlaments im Machtgefüge des Reiches signifikant zu verändern, kam es deshalb bis 1918 nicht, obwohl sich spätestens seit der Daily-Telegraph-Affäre 1908 wiederholt die Möglichkeit dazu bot. Mit Ausnahme des kurzlebigen „Bülow-Blocks“ von 1907/09 kam es zu keinen festen Koalitionsbildungen im Reichstag. Stattdessen bildeten die Parteien jeweils ad hoc wechselnde Mehrheiten. Die Möglichkeit zur Gesetzesinitiative, die ihnen die Verfassung bot, nutzten sie nicht aus. Sogar die konservativen Reichskanzler, alles andere als Befürworter eines parlamentarischen Regiments, beklagten sich über die Berührungsängste der Volksvertreter gegenüber politischer Verantwortung. Bernhard von Bülow vermerkte 1909 den „Mangel an Verantwortlichkeitsgefühl bei den Parteiführern, die nicht wie in parlamentarisch regierten Ländern mit der Möglichkeit rechnen, in absehbarer Zeit selbst Regierung zu sein.“ Sein Nachfolger Bethmann Hollweg beschwerte sich darüber, dass „das Niveau des Reichstags beklagenswert tief [sei], sobald es sich darum handelt, dem Wunsch nach Macht die Fähigkeit, solche zu üben, als Beweismittel hinzuzufügen, das heißt nicht bloß immer zu negieren und zu kritisieren“.[1]

1918 veränderte sich die Situation dann gleichsam über Nacht. Der demokratisch gewählte Reichstag wurde jetzt zum politischen Machtzentrum, die Regierung ihm verantwortlich, das Wahlvolk zum Souverän. Doch weder die Parteien noch die Bürger wa­ren darauf vorbereitet. Es gelang ihnen nicht, die in einem halben Jahrhundert angeeignete Mentalität der politischen Verantwortungslosigkeit in wenigen Jahren zu überwinden. Wer nach kausalen Zusammenhängen zwischen der Entwicklung des Kaiserreichs und dem weiteren Verlauf der deutschen Geschichte sucht, wird sie vor allem hier finden. Und hier könnten vielleicht auch Denkanstöße für die Prob­leme und weitere Entwicklung der Demokratie in Deutschland heute zu finden sein.

Während der 1920er Jahre entwickelte sich zwar so etwas wie eine parlamentarische Kultur in Deutschland. Parlamentarier fanden zu einem kollegialen Miteinander und erlernten in Ausschüssen die Kunst des Kompromisses. Doch in ihrer Öffentlichkeitsarbeit fand diese neue Kompromisskultur kaum Ausdruck. Die Parteiführungen wagten es nach wie vor nur selten, ihren Wählern die Akzeptanz von unpopulären Entscheidungen zuzumuten. Eine Zivilgesellschaft, in der Bürger lernten, selbst Verantwortung zu übernehmen, blieb auch in der Weimarer Republik noch Utopie. Und obwohl die im Kaiserreich übliche Trennung von Reichstagsmandat und Regierungsamt in der Weimarer Republik aufgehoben wurde, blieb in den Köpfen der Parlamentarier das Bild eines Gegensatzes von Legislative und Exekutive doch stark.

Das erwies sich als fatal, als die frische Brise der 1920er Jahre nach dem Aufziehen der Weltwirtschaftskrise von den rauen Stürmen der 1930er abgelöst wurde. In Großbritannien, Belgien oder Dänemark, wo Parteien schon vor dem Ersten Weltkrieg gewohnt gewesen waren, Regierungsverantwortung zu übernehmen, schlossen sich die größeren politischen Lager zur Verteidigung der Demokratie zusammen. In Deutschland brach dagegen die immer schon prekäre Koalition der Demokraten auseinander. Selbst eine so unbestreitbar demokratische Partei wie die SPD zog es nun vor, in der Opposition ihre Klientel beisammenzuhalten, statt sich in der Regierungsverantwortung zu exponieren. Die Kunst des Kompromisses geriet unter die Räder. Im März 1930 brach die letzte Weimarer Koalition deshalb auseinander. Die daraufhin angesetzten außerordentlichen Neuwahlen zum Reichstag brachten einen Erdrutschsieg der NSDAP. Die Demokraten selbst verrieten demokratische Tugenden, bevor ihre Gegner der Demokratie den Todesstoß versetzten.

Literatur:

Blackbourn, David, The Politics of Demagogy, in: Ders., Populists and Patricians, London 1987, 217–245

Grosser, Dieter, Vom monarchischen Konstitutionalismus zur parlamentarischen Demokratie: Die Verfassungspolitik der deutschen Parteien im letzten Jahrzehnt des Kaiserreiches,
Den Haag 1970

Nonn, Christoph, 12 Tage und ein halbes Jahrhundert,
München 2020

Mergel, Thomas, Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik, Düsseldorf 2002

[1] Bülow an Holstein 20.1.1909, in: Norman Rich (Hg.), Die geheimen Papiere Friedrich von Holsteins, Göttingen 1963, IV S. 553; Bethmann Hollweg nach Rudolf Vierhaus, Am Hof der Hohenzollern: Aus dem Tagebuch der Baronin Spitzemberg 1865-1914, München 1965, S. 241 (6.12.1908).