Radikaler Konservatismus im Deutschen Kaiserreich

Ulrich Sieg

Die konservativen Parteien entstanden in Deutschland als Resultat der traumatisch erfahrenen Revolution von 1848. Die gravierenden Wahlniederlagen vom Mai 1848 verhinderten die Bildung eigenständiger Fraktionen; später stand das vor allem in Brandenburg und Preußen existierende konservative Vereinswesen im Zeichen der politischen Reaktion. Lutherische Obrigkeitsideale und Vorstellungen vom Gottesgnadentum besaßen im konservativen Lager eine hohe Selbstverständlichkeit. Allerdings bestand auch dort die Bereitschaft, sich im Kampf um die Macht moderner Mittel zu bedienen. Dies gilt besonders für die Sozialkonservativen um Hermann Wagener, die zu Bismarcks energischsten Anhängern in den 1850er und 1860er Jahren zählten und die Klaviatur der Massenmedien beherrschten. Auf die Dauer war ein instrumentelles Politikverständnis bei rückwärtsgewandten Inhalten jedoch zu wenig, um Intellektuelle von Rang anzulocken. Es brauchte die politische Erschütterung der Kaiserattentate und den politischen Schwenk Bismarcks nach rechts, damit konservative Inhalte massiv an Interesse gewannen. Ihre prononcierten Vertreter verstanden sich als politische Radikale und verbanden eine grundsätzliche Gegenwartskritik mit einer umfassenden Idealisierung der Vergangenheit. Die vielleicht größte Wirkung erzielte der Göttinger Orientalist Paul de Lagarde.

Lagarde ist der „Mann eines Buches“. Es sind die 1878 erschienenen und immer wieder aufgelegten „Deutschen Schriften“, in denen sich seine zentralen politischen Gedanken finden. Der Sache nach handelt es sich um eine Sammlung von Aufsätzen aus ganz unterschiedlichen Kontexten, die primär durch eine hermetische Rhetorik zusammengehalten werden. Die Märzrevolution lehnte Lagarde grundsätzlich ab und hoffte auf eine Partei von „Radikal-Konservativen, welche bis auf weiteres nur von mir vertreten ist“ (Lagarde, Deutsche Schriften, 16). Der exzeptionellen Perspektive entsprach eine radikale Diktion: Gewalt betrachtete Lagarde als legitimes politisches Mittel und für die Lösung der deutschen Frage vertraute er auf Preußens militärische Stärke. Gleichzeitig sah er im Adel die wichtigste Kraft des deutschen Volkes.

Nach der Reichsgründung veränderte sich Lagardes Bewertung der politischen Welt substantiell. Das Kaiserreich hielt er für eine Fehlkonstruktion, weil es ihm an innerer Einheit und insbesondere an einem verbindlichen religiösen Glauben fehle. Die Liberalen bildeten das vielleicht wichtigste Feindbild Lagardes. Leidenschaftlich machte er sie für Missstände der Gegenwart verantwortlich und unterstellte ihnen alles, was er hasste. Die liberale „Toleranz“ erschien ihm besonders verwerflich: Sie untergrabe „Gehorsam“ und „Demut“, auf die jede „echte Religion“ angewiesen sei, und führe notwendig zu einer tiefgreifenden Entchristlichung. Als Haupttriebkräfte des Liberalismus betrachtete er – vergleichsweise unspektakulär – Eitelkeit und Bequemlichkeit. In eigentümlichem Kontrast dazu stand Lagardes Vorstellung einer liberalen Weltverschwörung, die er einprägsam als „Graue Internationale“ titulierte.

Die Kritik am Liberalismus verband Lagarde mit scharfen Angriffen auf das Bildungssystem; insonderheit kritisierte er die Sinnlosigkeit allzu umfangreichen historischen Wissens: „Drei Dinge sind der Ertrag unsrer Bildung: schlechte Augen, gähnender Ekel vor allem was war, und die Unfähigkeit zur Zukunft“ (Lagarde, Deutsche
Schriften, 344).

Dies waren kulturkritische Töne, wie sie sich auch bei Jacob Burckhardt oder dem jungen Friedrich Nietzsche finden lassen, der Lagarde übrigens eingehend studiert hat. Worin sich Lagarde von den meisten Kritikern des Bildungssystems unterschied, war seine Identifizierung der „Bildung“ mit dem „Liberalismus“, den er seinerseits als stark jüdisch geprägte Weltanschauung auffasste. Lagarde war davon überzeugt, dass Nationen nur kulturell verstanden werden können. Sein vielleicht berühmtester Satz lautete: „Das Deutschthum liegt nicht im Geblüte, sondern im Gemüthe“ (Lagarde, Deutsche Schriften, S. 26) und bekundete den idealistischen Kern seiner Weltanschauung. Gleichzeitig zwei­felte er nicht daran, dass die Juden einen Staat im Staate bildeten und deshalb für das Deutsche Reich untragbar seien. Lagarde plante eine Umsiedlung der Juden aus den Weichsel- und Donauländern nach Palästina, und in Anlehnung an den berühmten Historiker Heinrich von Treitschke äußerte er apodiktisch: „Es ist unmöglich eine Nation in der Nation zu dulden.“ (Lagarde, Deutsche Schriften, 36). Lagarde verschmolz auf aggressive Art nationalistische und antisemitische Denkelemente zu einer neuen Weltanschauung. Für sie ist ein Reinheitsfuror charakteristisch, der auf die Gefährdung nationaler Homogenität mit Vernichtungsvorstellungen reagiert: „Jeder fremde Körper in einem lebendigen andern erzeugt Unbehagen, Krankheit, oft sogar Eiterung und den Tod. […] Die Juden sind als Juden in jedem euro­päischen Staate Fremde, und als Fremde nichts anderes als Träger der Verwesung“ (Lagarde, Deutsche
Schriften, 278).

In starkem Kontrast zu diesen Passagen steht Lagardes Lehre von der „Gotteskindschaft“. Nur dem gläubigen Menschen stehe das „Königreich Gottes“ offen, und innere Umkehr sei die notwendige Vorbedingung religiöser Erweckung. In Lagardes Schriften finden sich einfühlsame Passagen, und es dürfte kein Zufall sein, dass er auch als Lyriker einiges Talent besaß. Die Forschung hat die unterschiedlichen Seiten seiner Persönlichkeit selten zusammendenken können und von einem „harten“ und einem „weichen“ Lagarde gesprochen. Tatsächlich steht sein Weltbild in der langen Tradition chiliastisch-messianischen Denkens.

Die Idealvorstellung nationaler Religion ist der Gegenentwurf zu einer als gottlos und sinnentleert empfundenen Gegenwart. In apokalyptischer Sprache geißelte Lagarde die Fehlentwicklungen seiner Zeit: „Nur ganz individuelles, ganz persönliches Leben kann uns aus dem Schlamme erretten, in welchen wir durch die Ueberbürdung der Geschichte mit Kulturballast und Civilationsquarke, durch die Schablonisirung der Empfindungen und der Urtheile, durch den Despotismus der vielen kleinen und großen Selbstsuchten von Tage zu Tage tiefer versinken.“
(Lagarde, Deutsche Schriften, 299).

Gerade die Religionsgeschichte lehre, „wirkliche Religion“ sei nur im Kollektiv erfahrbar, und so hoffte er auf einen neuen nationalen Glauben, um die Widersprüche der Gegenwart zu überwinden.

Spätestens mit Lagardes Tod 1891 begann die Zeit seiner politischen Breitenwirkung. Antisemitische Grup­pierungen beriefen sich meist auf seine wissenschaftliche Autorität, während der „Bayreuther Kreis“ primär die Radikalität seines Denkens pries. Ludwig Schemann und Theodor Fritsch, zwei Schlüsselfiguren der völkischen Rechten, rückten ihn in die Nähe biologistischer und rassistischer Ideologien. Lagardes Witwe unterstützte die Legendenbildung nach Kräften. Sie scharte potentielle Anhänger seiner Ideen um sich und legte den Nachlass wie eine Art Vermächtnis an, wobei sie es nicht versäumte, unliebsame Schriftstücke zu vernichten. Ähnlich wie bei Nietzsche war die die gezielte Vergangenheitspolitik ungemein erfolgreich, und Lagarde galt um 1900 weithin als „Prophet des Deutschtums“.

Julius Langbehn, der in puncto Gegenwartskritik sein Erbe antrat, war in vielem das genaue Gegenteil: er hegte eine Menge kühner Ideen, sah glänzend aus und scheute harte Arbeit wie der Teufel das Weihwasser. Sein erstes Buch Rembrandt als Erzieher wurde in den Zeitungen hymnisch gefeiert. Allein zwischen 1890 und 1893 erschienen 43 Auflagen, die mehr als 60.000 Käufer fanden. Der Autor blieb vorerst unbekannt, und es bürgerte sich ein, vom „Rembrandtdeutschen“ zu sprechen, dem das deutsche Volk tiefe Einsichten zu verdanken habe. Gleichzeitig sorgte das Rätsel um die Urheberschaft für vielfältige Spekulationen, die den Verkauf des Werks in die Höhe trieben. Manch ein Leser meinte sogar, die rätselhafte Herkunft sei dem mystischen Inhalt der Schrift kongenial. Ihr Verfasser hatte freilich auch persönliche Gründe, sich nicht nach vorn zu spielen, entsprach seine Vita doch schwerlich bürgerlichen Idealen.1851 im nordschleswigschen Hadersleben geboren, hatte Langbehn in Kiel und München Philo­lo­gie wie Naturwissenschaften studiert, aber im Unterschied zu Lagarde kräftig gebummelt. Dafür besaß er das Talent, andere Leute für seine Ideen zu be­geistern und ihnen Geld aus der Tasche zu ziehen. Zehn Jahre lang lebte er von Verlagsvorschüssen und Gelegenheitsarbeiten, bis ihm mit Rembrandt als Erzieher der große Wurf gelang.

Langbehn beherrschte eine Vielzahl von Stilmitteln, er neigte zu aphoristischer Sprunghaftigkeit und be­vor­zugte krude Etymologien. Kühne Assoziationen sind für den Aufbau seines Textes wichtiger als strenge Gedankenführung oder schlüssige Argumentation. Das Langbehnsche Zauberwort heißt Synthese. In einer zunehmend unüberschaubaren Welt plädierte er für die „Wesensschau“ des Künstlers gegen den differenzierten Blick des Wissenschaftlers und vermittelte mit einfachen Aussagen Vertrauen in einen geordneten Weltaufbau:

„Das Genie weiß die Welt im Grashalm, aber auch den Grashalm in der Welt, d.h. den Bau des Grashalms im Bau der gesammten Welt wiederzuerkennen; es steht zwischen dem Größten und dem Kleinsten; es spezialisirt und generalisirt zu gleicher Zeit.“
(Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 210)

Im Mittelpunkt von Langbehns Weltbild stand die Auffassung, dass der Mensch seine höchste Erfüllung in der Kunst finde. In der Gegenwart sei vor allem der Norddeutsche zu Schönstem berufen. Der Nebel über den Mooren und der weite Blick in die Ferne gebe ihm jenes Gefühl für Unendlichkeit, das die Vorbedingung echter Kunst sei. Dazu passte Langbehns Selbststilisierung als „Held aus dem Nebelland“. Rembrandt selbst bedeutete ihm wenig, er liebte weder seine Bilder noch fühlte er sich zum 17. Jahrhundert hingezogen. Vielmehr hatte Langbehn die Chiffre „Rembrandt“ gewählt, weil sich damit die Tiefe der eigenen Kunstphilosophie unterstreichen ließ. Ähnliches gilt für die nationalistische Diktion: sie war eine „Dreingabe aus Kalkül“. Die nationalistischen Metaphern sollten Leser anlocken, die mit Kunst nichts anzufangen wussten.

Langbehns Zeitkritik lag ein genuin konservatives Weltverständnis zugrunde. Ähnlich wie Lagarde glaubte er an einen guten König, an die ethische Substanz des Adels und an den Wert der Volksseele, doch statt schroffe Gegensätze heraufzubeschwören, wähl­te er eine versöhnende Diktion: „Die Begriffe Staat und Volk, Volk und Gebildete sollen nicht zu künstlichen Gegensätzen verschärft, sondern zu natürlicher Harmonie ausgeglichen werden. […] Vor diesem Ziele verschwinden alle Berufs- und Standesunterschiede; nur Menschen begegnen den Menschen; Hoch und Nieder reichen sich die Hände.“ (Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 182).

Bei Licht betrachtet handelte es sich um eine konventionelle Vorstellung: der Ständestaat als rückwärtsgewandte Utopie. Doch war sie in seiner exaltierten Sprache verfasst, die in der Welt des Fin de Siècle auf offene Ohren stieß. Juden hatten zu diesem Idyll allerdings keinen Zutritt; denn ihnen fehlte nach Langbehn jeder Sinn für die synthetische Schau. In den höheren Auflagen von Rembrandt als Erzieher verschärfte er seine Kritik am Judentum massiv, um neue Leser zu gewinnen. Es habe sich zu sehr auf den Geist der Modere eingelassen und sei deshalb von einem mechanischen Wissenschaftsverständnis unheilvoll geprägt. Insbesondere in den „666 Schlussbemerkungen“ findet sich nun ein rabiater Antisemitismus, der auch im Ton schwerlich zur weihevollen Kunstphilosophie des übrigen Werks passt. Doch reichte diese Veränderungen nicht, um Langbehn dauerhaftes Interesse jenseits jugendbewegter Zirkel zu sichern.

Der neue Stern unter den Vordenkern eines radikalen Konservatismus war der Wahldeutsche Houston Stewart Chamberlain. Ein Jahr nach Langbehns Tod heiratetet er 1908 Eva Wagner und wurde damit zu einer Schlüsselfigur des Bayreuther Kreises. Zu diesem Zeitpunkt verfügte der ehrgeizige Engländer schon über eine einflussreiche Position. Er verstand sich ausgezeichnet mit der machtbewussten Cosima Wagner und hatte 1899 ein Buch verfasst, das bald in aller Munde war: eine umfangreiche Monographie mit dem stolzen Titel Die Grundlagen des 19. Jahr­hun­derts. Das Werk gefiel Wilhelm II. so gut, dass es zum festen Bestandteil der preußischen Lehrerausbildung wurde.

Wie manch anderer literarische Erfolg verdankte sich die Schrift einem prosaischen Anlass. Der Münchener Verleger Hugo Bruckmann plante eine europäische Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts und hatte sich für Chamberlain als Autor entschieden. Über Band eins sollte das Unternehmen allerdings nicht hinausgelangen. Eine Fortführung der Grundlagen des 19. Jahrhunderts war indes auch unnötig, spiegelte das Werk doch anschaulich die innere Zerrissenheit der wilhelminischen Ära. Es sprach gleichzeitig die Hoffnungen und Ängste seiner Leser an, indem es die Vorherrschaft des nordischen bzw. deutschen Menschen beschwor und inständig vor dem moralischen Niedergang der Gegenwart warnte. Bis 1915 erschienen zwölf Auflagen, die mehr als hunderttausend Käufer fanden. Dies war eine Folge stilistischer Eigentümlichkeiten. Chamberlain beherrschte jene gravitätischen Formulierungen, die das Bildungsbürgertum besonders liebte, gerade wenn sie mit einer Prise Gewalt gewürzt waren.

Die Hauptthese der Grundlagen des 19. Jahrhunderts ist denkbar einfach: Rassenkämpfe hätten von je her den Gang der Geschichte bestimmt, und die euro­päische Vergangenheit sei nur als Auseinandersetzung zwischen „semitischen“ und „arischen“ Völkern wirklich zu verstehen. Eine besondere Pointe lag in der Deutung des Christentums. Nachdrücklich betonte Chamberlain, dass Jesus Arier gewesen sei; denn nur die Arier besäßen jenen Idealismus, der sein Verhalten auf Schritt und Tritt charakterisiere. Dies war eine Ge­schichts­klitterung ersten Ranges, die auf die Leugnung der jüdischen Wurzeln des Neuen Testaments hi­naus­lief. Polemisch behauptete Chamberlain zudem, Darwin eher als Richard Wagner zu folgen, was in Bayreuth freilich nur dazu führte, die rassische Dimension in Wagners Schaffen deutlicher herauszustellen.

Den Höhepunkt seines Ruhmes erklomm Chamberlain im Ersten Weltkrieg. Seine Kriegsaufsätze waren das meistgelesene deutschsprachige Werk nach 1914. Allein von der ersten Auflage wurden 75.000 Exemplare vertrieben. Prima facie richtete sich Chamber­lains Schrift gegen die materialistisch ausgerichtete englische Nation, doch bei näherem Hinsehen ließ sich erkennen, dass er dies vor allem mit antisemitischen Topoi tat. Beim „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ entschied man sich dafür, mit aller Kraft gegen die Kriegsschriften Chamberlains vorzugehen. Doch blieb der Erfolg der Kampagne schon allein aufgrund der geringen Auflage ihrer Aufklärungsbroschüren gering.

Generell mussten die Anhänger liberaler Werte erfahren, wie schwer sich gegen politische Mythen streiten ließ, die starke emotionale Bedürfnisse befriedigten. Der radikale Konservatismus bot Aufnahme in ein machtvolles nationales Kollektiv und zugleich die Lizenz zu schärfster Gegenwartskritik. Gerade für Menschen, die mit den tiefgreifenden Veränderungen des Fin de Siècle nicht zurechtkamen, war dies attraktiv. Der Preis, der für die gleichermaßen überhöhenden wie eskapistischen Vorstellungen rechtsextremer Denker zu zahlen war, wurde, wie es scheint, erst mit der Katastrophe des Ersten Weltkriegs deutlich.

Literatur:

Chamberlain, Houston Stewart, Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, München 1899

Lagarde, Paul de, Deutsche Schriften, 5. Aufl. Göttingen 1920

Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen [Julius Langbehn], Göttingen 1890

Sieg, Ulrich, Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus, München 2007

Stern, Fritz, Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland, Stuttgart 2005