Die Reichsgründung zwischen Juden-Emanzipation und Antisemitismus

Sabine Mangold-Will

„Von ungeheurem Patriotismus geschwellt“, so schrieb der liberale pfälzische Rabbiner Caesar Selig­mann, „war in jenen Tagen (der Reichsgründung, SMW), wie bis zum Weltkrieg 1914, mein leicht ent­zündliches Herz.“

Und der spätere preußische Justizrat Dr. Martin Lö­vin­son assistierte ihm im Rück­blick mit den folgenden Worten zum Jahr 1871: „Der siegreiche Krieg fand seinen Abschluß in dem ruhmreichen Frankfurter Frieden und der Gründung des neuen Deutschen Reichs. (…) Besonders ging auch uns Juden der Umschwung der inneren Verhältnisse lebhaft an. Durch das Gesetz über die Gleichberechtigung der Bekenntnisse vom Jahre 1869 waren in ganz Deutschland nunmehr die Schran­ken gefallen, die in den Gesetzen gegen den Zugang zu den Ämtern für sie aufgerichtet waren. (…) Die beiden Vettern meiner Mutter, Moritz und Albert Marcuse (..) kamen mit dem Eisernen Kreuze aus dem Felde zurück. Man sprach von jüdischen Richtern und Verwaltungsbeamten (…) So war denn auch in unsren Kreisen die Freude und Hoffnung eine fast unbeschreibliche. Nicht, dass jeder Jude eine Staatsstellung ersehnt hätte; aber daß das Gefühl der grundsätzlichen Entrechtung, eines Heloten­tums, von uns genommen schien, das hob den Sinn und spornte zu Leistungen im Dienste des Vater­landes nunmehr auch auf den Gebieten der friedlichen Entwicklung.“

Es sind diese und ähnliche Erinnerungen an die Reichsgründung, die Christoph Nonn in einem seiner frühen Aufsätze von der „Begeisterung“ der deutschen Juden über die Reichsgründung sprechen ließ. Eindringlich beschrieb er mit seinem lokalen Blick auf Geldern, wie die jüdische Gemeinde dort selbst­ver­ständ­lich zu den Sedansfeiern Schmuck und Fahnen aufzog und ein Portrait des neuen Kaisers für die jüdische Schule kaufte. Natürlich war das – wie Nonn in seiner abwägenden Art formulierte – auch ein Akt der integrativen Anpassung durch die jüdischen Gemeinden, die den „Test“ auf die Loyalität der jüdischen Minderheit akzeptierten; aber selbst oder gerade un­ser rückwärtiger quellenkritischer Blick erlaubt uns, mit ebenso viel Recht zu formulieren: Die Begeisterung war auch echt. Die Freude und Hoffnung wurzelten tief. Denn sie hatten einen realen Anhaltspunkt. Sie waren nicht einfach nur Ima­gination oder gar falsche Illusion.

Auch wenn das noch immer in einigen Lern-Handbüchern und vor allem in vielen einschlägigen Schul­büchern unerwähnt bleibt: Das Deutsche Kaiserreich startete ­– diesen Fakt gilt es erst einmal festzu­halten – mit der rechtlichen Gleichstellung der Juden. Das war ein Grund zum Feiern und ein Grund hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken.

Tatsächlich war das „Gesetz, betreffend die Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung“ vom späteren Kaiser Wilhelm I. bereits am 3. Juli 1869 – also zwei Jahre vor der Reichsgründung – mit Wirkung für den Norddeutschen Bund in Kraft gesetzt worden. Im April 1871 wurde dieses Gesetz auf Beschluss des erweiterten deutschen Reichstags auf den letzten, dem Geltungsbereich des Norddeutschen Bundesrechts noch nicht beigetretenen Staat, nämlich Bayern, übertragen. Doch nicht nur aus Sicht der bayrischen Juden, die bis dahin unter der restriktiven bayrischen Judengesetzgebung gelitten hatten, erwies sich die Reichsgründung damit als ein Zugewinn an Recht und Freiheit des Einzelnen.

Mit dem Titel der Tagung wird ja auf Hoffmann von Fallerslebens „Lied der Deutschen“ von 1841 ange­spielt: Einigkeit und Recht und Freiheit. Für die deutschen Liberalen und Demokraten war das genau seit dem Vormärz eines der wichtigsten Argumente für eine nationale Reichsgründung, also die Eini­gung, die hier als „Einigkeit“ auftritt: Sie würde – so ihre lang gehegte und gepflegte Zukunftsprojek­tion – den konservativen einzelstaatlichen Regelungen ein Ende machen und an ihre Stelle ein fort­schrittliches und liberales Recht für alle Deutschen setzen. Hier – im April 1871 – ist so ein seltener Mo­ment der echten Verwirklichung dieses politischen Traums der 48er Revo­lu­tion. Das Gesetz ist – histo­risch betrachtet – damit kein Neuanfang, sondern der glorreiche Endpunkt eines langen Kampfes, der 1848 in der Frankfurter Nationalversammlung begonnen hatte.

Nach einer Debatte, gar einer liberalen Jubelarie der Parlamentarier, sucht man in den Protokollen des Reichstages indes vergeblich. Die entsprechenden Reichstagssitzungen im Frühjahr 1871 verliefen alle­samt ohne Aussprache. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Ein Zeichen von Normalität oder von Desinteresse? Oder von beidem? Auf jeden Fall erweist sich dieses Schweigen im Reichstag der Reichsgründungsperiode als ein nachträgliches Problem: Als Erinnerungsort taugte und taugt das reichsweite Inkrafttreten des „Gesetzes, betreffend die Gleichberechtigung der Konfessionen in bür­gerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung“ als Moment der Emanzipation damit schlicht nicht. Nicht einmal den mecklenburgischen Abgeordneten der Fortschrittspartei und Revolutionär des Jahres 1848 Moritz Wiggers, dem das Gesetz im Norddeutschen Bund maßgeblich seine Verwirklichung verdankte, kennt heute noch jemand.

Die gesetzliche Ordnung – auch das gilt es zunächst einmal ernst zu nehmen – war ein tätiger Sprech­akt, ja mehr noch: Sie hatte Folgen. Sie eröffnete bis dahin unmögliche Möglichkeiten und ermöglichte mithin Freiheit. Es entstanden Räume für neue Lebens- und Karrierewege, an die zuvor nicht einmal zu denken war. Zweifellos, im Rückblick, angesichts des Antisemitismus der Weimarer Republik und erst recht des Nationalsozialismus, erstrahlte das Kaiserreich in den Erinnerungen heller, als es war. Aber auch das kann die rückwärtige Bewertung nicht einfach außer Acht lassen: Das Kaiserreich war gemes­sen an den Diskriminierungs-, Gewalt- und Unrechtserfahrungen des 20. Jahrhunderts heller: Es schuf die Chancen, die andere wieder zunichtemachten; im Kaiserreich lagen die praktischen Anfänge der Gleichstellung und in seiner Gesetzgebung trat es von seinem Versprechen auf Gleichberechtigung niemals zurück. Aktives und passives Wahlrecht, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Meinungs­freiheit durch unzensierte Publikationsmöglichkeiten, Eigentumsrecht, freie Re­li­gions­ausübung – all das wurde zwischen 1871 und 1918 niemals im Sinne antijüdischer Sonderregelungen auf Reichsebene in Frage gestellt. Das Kaiserreich war eine konstitutionelle Monarchie, aber keine Diktatur und immer ein Rechtsstaat, nicht nur im formalen, sondern auch im normativen Sinne.

Und doch war das nur die eine Seite, allerdings eben auch mehr als nur die „for­male Norm“; in der alltäglichen Praxis sah die Welt trotz dieser Rechte und Freiheiten teilweise sehr anders aus, unterschieden sich Erleben und Erfahrung vom Versprechen eklatant. Doch wo und wann hätte es keine Kluft zwischen recht­lichem Anspruch und sozialer Wirklichkeit gegeben? Und wo wäre „Freiheit“ als normative Messlatte gegeben gewesen, an der wir Heutigen das Kai­ser­reich „bemessen“ müssten und könnten? An Frankreich, das den Offizier Dreyfus am Ende rehabilitierte, an Großbritan­nien, das Benjamin Disraeli 1868 zu seinem Premierminister machte? Wenn wir die Abstimmung mit den Füßen als demoskopische Methode akzeptieren, dann lautet die Antwort ganz an­ders: nämlich USA. Das Hauptziel jüdischer Auswanderung aus Europa, das Land der Träume und der als real erlebten Freiheiten, war das ganze 19. Jahrhundert über Amerika, vor allem das nördliche Ame­rika. Bezeichnend in diesem Sinne ist die Geschichte des elsässischen Juden Edmond Uhry, der – wie sein ältester Bruder auch – nicht ins benachbarte Frankreich übersiedelte, sondern die Vereinigten Staaten von Amerika als Auswanderungsziel wählte:

„Die größeren Möglichkeiten und Freiheiten in der Neuen Welt waren zwar ein Beweggrund, aber schwerer fiel bei der Entscheidung der Militärdienst ins Gewicht. In unserem vom preußischen Militarismus bedrückten Grenzland waren die drei Jahre Mi­litärdienst sehr gefürchtet. Das Volk nahm dem Bismarckschen System seine Ungerechtigkeit übel und fürchtete ständig die Wiederkehr des Krieges. Konnten die Söhne all dem entfliehen, machte das den Abschiedsschmerz leichter. In einigen Fällen hofften die Familien auch auf eine spätere Wiedervereini­gung der Familie auf jenem Boden, den die Söhne als Pioniere erst gewinnen sollten.“ 

Was erzählt uns dieser Fall – der so bezeichnenderweise mit der elsässischen und gar nicht mit der jü­dischen Situation argumentiert – über „Freiheit(en)“ oder Unfreiheiten jüdischer Bürger im Kaiserreich? Die Freiheit zu gehen, war gegeben. Die Freiheit zu blei­ben und Militärdienst zu leisten, auch. Um wel­che Freiheiten ging es also? 

Es ging – so lese ich diese Stelle – um die Freiheit, ohne Eingriff des Staates und ohne gesellschaftliche Diskriminierung, das eigene Leben so zu gestalten, wie es einem jeden Einzelnen gefällt: Wenn wir Edmond Uhry als Prototyp nehmen, dann macht er deutlich, dass der Dienst für den Staat und die All­gemeinheit nur auf freiwilliger Identifikation und allgemeiner Gleichberechtigung erfolgen darf. Alles andere ist „Militarismus“. Sodann formulierte er indirekt die Erwartung auf freie Berufswahl, die – als Lackmus-Test der Freiheit, weil sie die Voraussetzung für die Entfaltung der eigenen Fähigkeiten wie die finan­ziel­le Absicherung des Lebensbedürfnisses darstellt – auch die Stellen des öffentlichen Diens­tes in Bildung, Militär, Justiz, Verwaltung und Politik umfassen musste. Doch genau hier griff im Kai­serreich die diskriminierende staatliche wie gesellschaftliche Praxis am Merklichsten. Deswegen sind die wissenschaftlichen Studien zum jüdischen Leben im Kaiserreich voller Bemühungen, die wenigen jüdischen Richter, Verwaltungsbeamte und Professoren zu dokumentieren und die verhinderten Karri­eren nicht nur in Militär oder Reichspolitik aufzuzeigen. Und schließlich ging es – Voraussetzung wie Ziel aller Freiheit – um die gesellschaftliche Akzeptanz, um die alltägliche Ausgrenzung des scheinbar Abweichenden durch Kommunikation und soziale Interaktionen im öffentlichen wie privaten Raum. Hier setzt die Geschichte des Antisemitismus im Kaiserreich ein. Und diese Geschichte reicht, wie wir alltäglich erleben, bis in unsere Gegenwart.

Literatur:

Brechenmacher, Thomas, Jüdisches Leben im Kaiserreich, in: Heidenreich Bernd/Neitzel, Sönke(Hg.), Das Deutsche Kaiserreich 1890–1914, Paderborn 2011, 125–141