„KRIEG MACHT NATION“ – Eine Ausstellung des Militärhistorischen Museums zur Gründung des deutschen Kaiserreichs
Katja Protte
Das Konzept von Nation und Nationalstaat steht heute mehr denn je im Spannungsfeld zwischen Globalisierung und Sehnsucht nach Heimat und regionaler Identität. Das Militärhistorische Museum hat daher die 150-jährige Wiederkehr des Deutsch-Französischen Krieges und der Gründung des deutschen Kaiserreichs zum Anlass genommen, ein Thema aufzugreifen, dem sich lange Zeit kein großes Ausstellungsprojekt mehr gewidmet hat: der kriegerischen Gründung des ersten deutschen Nationalstaats. Die Ausstellung bildet den bislang fehlenden Mittelteil einer Trilogie zum langen 19. Jahrhundert, die 2013 mit „Blutige Romantik – 200 Jahre Befreiungskriege gegen Napoleon“ begann und die 2014 fortgesetzt wurde mit „14 – Menschen – Krieg“. Internationale Gedenkjahre werden bei dieser Trilogie zum Anlass genommen, historische Ereignisse vertiefend museal darzustellen und ihre Bezüge zur Gegenwart herauszuarbeiten, wobei dem Perspektivwechsel zwischen den verschiedenen kriegsbeteiligten Ländern eine wichtige Bedeutung zukommt.
Leitgedanken
Forciert durch Bismarcks Machtpolitik und die Kriege gegen Dänemark 1864, Österreich 1866 und Frankreich 1870/71 wurde 1871 das Deutsche Reich gegründet. Die Ausstellung „KRIEG MACHT NATION“ zeigt diese fast vergessenen Kriege als Kulminationspunkte von Fortschrittsglauben und Nationalidee im 19. Jahrhundert, die unsere Vorstellung von Krieg und Nationalstaat bis heute weit mehr prägen, als vielen Menschen bewusst ist. Sie untersucht das Verhältnis von Krieg und Nation und beleuchtet die Rolle, die Machtpolitik dabei spielte.
Drei Kriege, drei Siege, eine Nation? Die Frage nach den unterschiedlichen Hoffnungen und Zielen, die Menschen mit der Idee der Nation verbanden, und nach der Bedeutung, der sie Kriegen dabei zuschrieben, zieht sich als Leitmotiv durch die Ausstellung. Nation wird nicht als naturgegebene Konstante und die deutsche Einigung nicht als Ergebnis eines Bismarckschen Masterplans dargestellt, sondern Nationsbildung erscheint als langwieriger, schwieriger Prozess, den viele Akteure und Akteurinnen miteinander ausgehandelt oder gewaltsam gegeneinander erkämpft haben. Dies vermittelt die Ausstellung ausgehend von den europäischen Revolutionen 1848/49, indem sie das Wechselspiel zwischen Modernisierung monarchischer Macht, bürgerlich dominierter Nationalbewegung sowie einer zunehmend an Einfluss gewinnenden Arbeiterbewegung darstellt. Sie richtet den Blick nicht nur auf bekannte Protagonisten einer kleindeutschen, preußisch-monarchisch dominierten Lösung, sondern gibt auch ihren Gegenspielern und Kritikern Raum: von frühen Friedensaktivisten über den Pathologen und linksliberalen Politiker Robert Virchow, den Bismarck-Attentäter Ferdinand Cohen-Blind und den Zeitungsredakteur Wilhelm Obermüller, der nicht einsah, warum sich 1870 für einen preußisch geführten Krieg auch Sachsen totschießen lassen sollten, bis hin zu dem Sozialdemokraten August Bebel und seiner Ablehnung von Kriegskrediten.
Revolutionäre Aktion, Staatenkrieg und Volkskrieg sind integraler Teil der Gründung des ersten deutschen Nationalstaats. Sie kennzeichnen mehr oder weniger auch die italienische Einigung, die nationale Neuorientierung bereits bestehender Staaten und zunächst erfolglose nationale Unabhängigkeitsbewegungen. Die Ausstellung vermittelt, wie eng die Wahrnehmung und Akzeptanz von Krieg und Gewalt als Mittel zum Zweck, aber auch mythisch überhöht als Gemeinschaft stiftende, Veränderung vorantreibende und moralisch „reinigende“ Kraft mit der Idee der Nation verbunden waren. Bei keiner europäischen Großmacht war der Zusammenhang zwischen militärisch errungenen Siegen und Nationsbildung so eng wie beim deutschen Kaiserreich. Drei Siege unter preußischer Führung in enger zeitlicher Folge entwickelten eine Eigendynamik, die auch viele Menschen begeisterte, die einer Reichsgründung unter preußisch-monarchischen Vorzeichen zunächst skeptisch gegenüberstanden. Reichskanzler Bismarck wurde zum Symbol nationaler Stärke, das Offizierskorps stieg zum „vornehmsten Stand im Staate“ auf und das Militär wurde zum strahlenden Vorbild für die Zivilgesellschaft. Die Ausstellung beschäftigt sich mit diesen zweischneidigen Siegen, zeigt aber auch die Folgen, die die Kriege von 1864, 1866 und 1870/71 für das nationale Selbstverständnis der damals unterlegenen Länder Dänemark, Österreich und Frankreich hatten. Dänemark – Mitte des 19. Jahrhunderts noch ein Mittelstaat mit nationalistisch-aggressiver Außenpolitik – erfand sich neu als der friedliche, soziale, auf innere Entwicklung konzentrierte Kleinstaat, den wir heute kennen. Österreichs Führungsrolle in der multi-ethnischen Habsburger Monarchie war so geschwächt, dass Ungarn nun seine Forderungen nach mehr Gleichberechtigung durchsetzen konnte und 1867 die österreichisch-ungarische k.u.k. Doppelmonarchie begründet wurde. Frankreich wurde wieder Republik und erlebte mit dem Aufstand der Pariser Commune 1871 eine innere Zerreißprobe, die das nationale Gedächtnis ebenso prägte wie der Krieg gegen die deutschen Besatzer.
Die Idee der Nation in ihrer ganzen Wirkungsmacht und Widersprüchlichkeit – als Identifikationsangebot und Weltordnungsversuch – ist das Phänomen einer sich unter den Vorzeichen der Moderne verändernden Welt. Die Ausstellung zeigt die zunehmende Dynamik der wissenschaftlichen, technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen zwischen 1848 und 1871 als Narrativ, das untrennbar mit der Frage nach Krieg und Nation verquickt ist. Fabriken, Eisenbahnen, Telegrafen, beginnende Massenpresse und das Streben nach Freiheit und gesellschaftlicher Teilhabe veränderten nicht nur den Alltag der Menschen, sondern auch politische Handlungsspielräume und die Art und Weise, wie Krieg geführt wurde. Offene Feldschlachten, große Reiterattacken und bunte Uniformen lassen häufig vergessen, wie viele Elemente der Kriege von 1864, 1866 und 1870/71 dem Ersten Weltkrieg weit näher waren als den Napoleonischen Kriegen. Während immer effizientere Geschütze und Gewehre entwickelt wurden, Eisenbahnen die Kriegführung beschleunigten, ausdehnten und massenhaft Kriegsgefangene und Verletzte weit hinter die Fronten beförderten, organisierten sich Bürgerinnen und Bürger, um das Leid auf den Schlachtfeldern zu lindern. Die erste Genfer Konvention und die Gründung der Rotkreuzbewegung 1864 sind die Keimzelle dessen, was heute als humanitäres Völkerrecht unser Kriegsbild bestimmt.
Museum und Ausstellung
Im Herbst 2011 öffnete das neukonzipierte Militärhistorische Museum der Bundeswehr in Dresden seine Pforten. Nach Plänen des Architekten Daniel Libeskind ist ein spektakulärer Erweiterungsbau entstanden: Ein Keil, der sich mitten durch das historistische Arsenalgebäude schiebt. Das Museum versucht nicht, deutsche Militärgeschichte in ungebrochenen Traditionslinien darzustellen, sondern nutzt Brüche und Perspektivwechsel als Strukturprinzip. Multiperspektivisch ist das Haus auch in der Art des musealen Erzählens. Es verbindet zwei grundlegend unterschiedliche Präsentationsformen: eine Chronologie in den Flügeln des Altbaus und einen Themenparcours im „Libeskind-Keil“, in dem zeitlich übergreifende Bereiche wie „Militär und Technologie“, „Leiden am Krieg“ oder „Krieg und Gedächtnis“ zu finden sind. Beide Ausstellungsteile eint der Blick auf den einzelnen Menschen, der Gewalt ausübt und/oder erleidet. Architektur und Inhalte zielen nicht auf ein Gedenken nach eingeübten Mustern ab, sondern auf das Schaffen von Denkräumen. Diesen Grundprinzipien folgt auch die Ausstellung „KRIEG MACHT NATION“.
Den Auftakt der Ausstellung bildet ein Prolog mit einer schwarz-rot-goldenen Fahne von 1848 und Ernst Moritz Arndts Gedicht „Des Deutschen Vaterland“. 1813 während der Befreiungskriege gegen Napoleon geschrieben, wurde das Gedicht, mehrfach vertont, zu einer inoffiziellen Hymne der deutschen Nationalbewegung und gehörte im Kaiserreich schließlich als Schullektüre zum patriotischen Kanon. Arndts Gedicht feiert nicht nur deutsche Sprache und deutsches Wesen, sondern predigt gleichzeitig Franzosenhass. Die Idee der Nation versprach Fortschritt, Freiheit und Teilhabe, ging aber von Anfang an mit Aus- und kriegerischer Abgrenzung einher. Im Ausstellungsrundgang wird die Frage, was eine Nation sein kann, was sie eint und was sie trennt, immer wieder mit Objekten bzw. Objektgruppen zu Themen wie Sprache, (Vor-)Geschichte, Religion oder Wirtschaft und Handel aufgegriffen.
Die Ausstellung besteht aus zwei räumlich getrennten Teilen: dem Exponat basierten Hauptteil in der Wechselausstellungshalle des Arsenalgebäudes und einem stärker inszenierten, essayistisch angelegten Ausblick in einer ehemaligen Industriehalle hinter dem Gebäude. Verbunden werden beide Teile mit Figurensilhouetten, die Besucherinnen und Besucher vom Vorplatz des Museums in das Foyer und über das Freigelände in den zweiten Ausstellungsteil leiten. Zusammen mit teils typischen, teils überraschenden Zitaten und Zuschreibungen erscheinen zum Beispiel Bismarck, Kaiserin Elisabeth von Österreich, genannt „Sisi“/“Sissi“, Friedrich Engels, Bertha von Suttner, die französische Anarchistin Louise Michel und auch weniger bekannte Menschen, deren Biografien auf unterschiedliche Weise mit den Kriegen von 1864, 1866 und 1870/71 in Beziehung stehen.
Das ehemalige Arsenalgebäude im Herzen der Dresdner Albertstadt – einst eine der größten Kasernenstädte Europas – wurde zwischen 1873 und 1877 maßgeblich mit französischen Reparationsgeldern errichtet. Es ist selbst Teil der Epoche, der sich die Ausstellung widmet. Der Ausstellungsraum mit seinen überwölbten Rustika-Sandsteinpfeilern war für den Ausstellungsgestalter Thomas Ebersbach Chance und Herausforderung zugleich. In einem als Bildergalerie fungierenden Umgang lässt er die historistische Architektur wirken, im Zentrum des Raums bindet er die Exponate in ein dunkel gehaltenes Gangsystem ein, das die Härte und das aggressive Moment der Pracht- und Imponier-Architektur durch Verstärkung bricht und einen eigenen Erlebnisraum schafft.
Besucherinnen und Besucher erwartet eine chronologische Erzählung von den Revolutionen 1848/49 bis zur Reichsgründung 1871 und ein Themenraum, der nach modernen Elementen der Kriegführung und des Kriegserlebens in der Heimat fragt. Eingefasst wird beides von der bereits erwähnten Bildergalerie, die Gemälde als Leitmedium der Kriegserinnerung im 19. Jahrhundert präsentiert. In Chronologie und Themenraum hingegen werden neben Realien vor allem Zeichnungen, Holzstiche und Fotografien gezeigt, die Zerstörungen, Gewalt und Leid oft direkter darstellen als das repräsentative, auf Dauer angelegte Medium der Malerei. Gerade das fotografische Erbe der Kriege von 1864, 1866 und 1870/71 ist über Fachkreise hinaus wenig bekannt und rückt diese Konflikte für Besucherinnen und Besucher näher an die eigenen Medienerfahrungen heran.
In der ehemaligen Industriehalle hinter dem Hauptgebäude mündet die Ausstellung „KRIEG MACHT NATION“ in einer verfremdeten Nachinszenierung von Louis Brauns Dresdner Schlachtenpanorama „Erstürmung von St. Privat am 18. August 1870“ (1883). Monumentale 360°-Gemälde erfreuten sich besonders im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts großer Popularität. Das Panorama war ein besonders spektakuläres Massenmedium, das im Wieder- und Nacherleben glorreicher Schlachten die Gesellschaft des Kaiserreichs einte. In der Ausstellung schließt sich die Panorama-Inszenierung je nach Blickwinkel zu einem großen Ganzen zusammen oder zerfällt in Einzelteile und gibt dabei Durchgänge frei zu Bereichen, die über die Zeit der Reichsgründung hinausweisen. Auf der einen Seite wird die Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts der zunehmend engeren Verbindung von Waffenentwicklung und Industrialisierung des Krieges gegenübergestellt – beides Entwicklungen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Ausgang nahmen und unser Kriegsbild bis heute bestimmen. Auf der anderen Seite zeigen sich ganz unterschiedliche Bruchlinien in der Gesellschaft des Kaiserreichs: der Umgang mit nationalen Minderheiten, der Kulturkampf um den Einfluss der katholischen Kirche, das Sozialistengesetz, Antisemitismus, aber auch der Kampf um das Wahlrecht für Frauen. Steht das Medium Schlachtenpanorama für Teilhabe an der Nation jenseits direkter politischer Partizipation, erscheinen hier politisch-gesellschaftliche Auseinandersetzungen der Zeit, in denen es auch immer darum ging, wer zur Nation gehören sollte und wer nicht – und wer welchen Einfluss im neuen deutschen Nationalstaat beanspruchen konnte.
Zur Zeit der Reichsgründung hatte die ältere Generation noch die Befreiungskriege gegen Napoleon erlebt; die Lebensspanne der jüngeren Generation hingegen konnte sich bis über den Zweiten Weltkrieg hinaus erstrecken. In der Ausstellung „KRIEG MACHT NATION“ können Besucherinnen und Besucher in einem Raum mit übergroßen Stühlen, die sie selbst auf Kindermaß schrumpfen lassen, in Bilder- und Jugendbüchern blättern. Diese zeigen, wie präsent die Kriege von 1864, 1866 und 1870/71 vor dem Ersten Weltkrieg in europäischen Kinderzimmern waren und wie stark besonders die im Deutsch-Französischen Krieg verschärften Feindbilder nachwirkten.
Die Ausstellung endet mit einem kurzen Ausblick auf die Zeit nach 1945. Nach zwei Weltkriegen und dem Holocaust war die Reichsgründung von 1871 kaum noch von öffentlichem Interesse. Historikerinnen und Historiker aus fünf verschiedenen Ländern denken in einem Filmbeitrag darüber nach, welche Fernwirkungen die Kriege von 1864, 1866 und 1870/71 haben und welche Rolle die im 19. Jahrhundert geprägte Nationalidee heute noch spielt. Ein Mitmach-Mobile lädt Besucherinnen und Besucher ein, auf bunten Kärtchen festzuhalten, was sie sich für Deutschlands Zukunft wünschen. Der Wunsch nach Frieden, Toleranz, Gleichberechtigung, nach weniger Hass und mehr Freundlichkeit ist überwältigend.
Die Epoche der sogenannten Reichseinigungskriege und das Kaiserreich werden oft entweder als „gute alte Zeit“ verklärt, in der die Kriege noch bunt und glorreich und das Leben übersichtlich und klar gewesen seien, oder als Wurzel allen Übels in der deutschen Geschichte verdammt. Die Ausstellung will Besucherinnern und Besucher bewusst einer großen Vielstimmigkeit aussetzen und sie ermutigen, genauer hinzuschauen, zu entdecken, dass die Herausforderungen, vor denen Menschen damals standen, manchmal gar nicht so weit entfernt sind von den Fragen, die uns noch heute beschäftigen, wenn auch unter anderen Vorzeichen: Wie kann man Frieden sichern? Lässt sich Kriegsleid überhaupt mildern? Wie viel nationale Unabhängigkeit, wieviel europäische und weltweite Integration wollen wir? Brauchen wir überhaupt noch Nationalstaaten und, wenn ja, wofür? Was hält ein Land zusammen?
Literatur:
Bauer, Gerhard/Protte, Katja/Wagner, Armin (Hg.), KRIEG MACHT NATION – Wie das deutsche Kaiserreich entstand,
Dresden 2020
Die Ausstellung ist noch bis zum 31. Januar 2021 in Dresden zu sehen. Bitte beachten Sie Corona-bedingte Schließungen.