Liberalismus im Reich und in Baden, 1871-1918
Michael Kitzing
Einleitung
„Wir werden in Deutschland keinen Schritt vorankommen, bevor nicht die vereinigten liberalen und demokratischen Gruppen den taktischen Anschluss an die Sozialdemokratie gefunden haben.“
Mit diesen Worten umschrieb der linksliberale Politiker Ludwig Haas (1875-1930) die Zielperspektive des badischen Liberalismus kurz nach 1900. Tatsächlich schlossen die badischen Liberalen in den Jahren 1905 bis 1913 im Rahmen von Landtagswahlen Wahlkampfabkommen (sog. Großblockabkommen) mit der Sozialdemokratie. Für die Verhältnisse des Kaiserreiches bedeutete ein derartiges Zusammengehen eine veritable Sensation, denn hier verbanden sich die Nationalliberalen, in Baden die „regierende Partei“, mit der vermeintlichen „Umsturzpartei“ Sozialdemokratie.
Wenn nun danach gefragt werden soll, welchen Beitrag der Liberalismus für eine freiheitliche Entwicklung des Kaiserreichs in Richtung Demokratisierung und Parlamentarisierung des damaligen politischen Systems geleistet hat, so sind die Großblockabkommen ein lohnendes Studienobjekt: Waren die Wahlkampfabkommen rein taktisch motiviert oder kamen Liberalismus und Sozialdemokratie hier tatsächlich zu einem gemeinsamen Programm? Wenn ja, auf welche Politikfelder bezog sich dieses Programm und welche Erfolge konnten hierbei erreicht werden? Warum zerbrach der Großblock gleichwohl und warum konnte dieser nicht auch auf die Reichsebene übertragen werden?
Diese Fragestellung soll eingebettet werden in einen Blick auf die Entwicklung des Liberalismus im Reich insgesamt, hierbei soll freilich auch herausgearbeitet werden, inwiefern der badische Liberalismus idealtypisch für den deutschen Liberalismus steht und inwieweit die Verhältnisse in Baden von denen im Reich abwichen.
Die Entwicklung der liberalen Parteien im Reich bis 1918
Am Beginn der parteipolitischen Entwicklung des Liberalismus in Deutschland nach dem Ende der Reaktionsdekade stand 1861 die Gründung die Fortschrittspartei. Diese setzte sich für eine Ausprägung rechtsstaatlicher Strukturen in Preußen ein und definierte als ihr Ziel die Schaffung eines kleindeutschen Nationalstaates mit einer Volksvertretung. Zugleich war die Fortschrittspartei die erste Partei, die eine dauerhaftere Organisation ausbilden konnte und im Zuge von Wahlkämpfen regelmäßig Flugblätter druckte und finanzielle Sammlungen durchführte.
1867 trennten sich die Nationalliberalen von der Fortschrittspartei. Im Gegensatz zur Fortschrittspartei gewährten die Nationalliberalen Otto v. Bismarck (1815-1898) für den Bruch der Verfassung im Zusammenhang mit dem preußischen Heereskonflikt Indemnität. Während die Fortschrittspartei dauerhaft in der Opposition verblieb, prägten die Nationalliberalen im Zusammenspiel mit Bismarck zwölf Jahre lang den inneren Reichsausbau. Auch waren sie mit Bismarck durch den Kulturkampf verbunden. Gleichwohl war das Zusammenspiel der Nationalliberalen mit Bismarck z.T. konfliktbehaftet, auch wehrte der Kanzler sämtliche Versuche der Nationalliberalen ab, ein parlamentarisches System zu schaffen. Nicht zuletzt um eine dauerhafte Abhängigkeit von den Nationalliberalen zu vermeiden, vollzog Bismarck 1879 eine innenpolitische Kehrtwende, die mit dem Übergang vom Freihandel zum Schutzzoll einherging. Nunmehr stützte sich Bismarck stärker auf die konservativen Parteien und teilweise auch auf das Zentrum. Gleichzeitig kam es bei den Nationalliberalen zu schweren innerparteilichen Auseinandersetzungen. Der linke Flügel der Nationalliberalen, der den Schutzzoll, das Septemnat und die Sozialistengesetze ablehnte, schied aus der Fraktion aus und bildete die Liberale Vereinigung. Diese vereinigte sich 1884 mit der Fortschrittspartei zur Deutsch-Freisinnigen Partei. Letztere erwies sich jedoch nicht als sehr stabil, innerhalb des linken Liberalismus kam es wiederholt zu Spaltungen, sodass teilweise vier verschiedene linksliberale Gruppierungen mit zumindest einzelnen Abgeordneten im Reichstag vertreten waren. Erst 1910 konnte mit der Fortschrittlichen Volkspartei eine einheitliche linksliberale Sammelpartei gegründet werden.
Die Nationalliberalen hatten nach dem Bruch mit Bismarck wesentlich an Einfluss verloren, auch wenn sie zwischen 1887 und 1890 sowie zwischen 1907 und 1909 nochmals enger mit der Regierung zusammenarbeiteten. Während die linksliberalen Gruppierungen im Wesentlichen ihre Wahlergebnisse halten konnten, fielen die Nationalliberalen zwischen 1871 und 1912 von 30,1 auf 13,6% der Wählerstimmen zurück. Neben innerparteilichen Auseinandersetzungen trug hierzu die fehlende Zielperspektive der Partei bei. Diese hatte ihre besten Wahlergebnisse erreicht, als 1871 mit der Reichsgründung ihr zentrales Anliegen verwirklicht wurde. Themen wie der innere Reichsausbau und der Erhalt der Rechtsstaatlichkeit konnten freilich nicht in dem Maße Wähler mobilisieren. Vor allem aber fehlte den Liberalen im Gegensatz zur SPD und dem katholischen Zentrum der Rückhalt eines sozial-moralischen Milieus mit einem entsprechenden Organisationsnetz, wie es bspw. Gewerkschaften und katholisches Vereinswesen darstellten. Hinzu kam die Scheu der individualistisch geprägten Liberalen, sich wie Sozialdemokraten oder wie Katholiken in einem Kollektiv zu organisieren, zaghafte Bemühungen um einen strafferen Parteiapparat und den Ausbau von Vorfeldorganisationen unternahmen die badischen Nationalliberalen bspw. erst ab 1909. Auch das gleiche Wahlrecht auf Reichsebene wirkte sich für die Nationalliberalen negativ aus. Als Partei des Wirtschafts- und Bildungsbürgertums schnitten diese in Einzelstaaten und Gemeinden mit einem Klassenwahlrecht regelmäßig besser ab als im Reich.
Die badischen Nationalliberalen als „regierende Partei“
Die Situation der Nationalliberalen in Baden gestaltete sich deutlich besser als im Reich, vor allem dank des Rückhaltes, den sie bei Großherzog Friedrich I. (1826-1907) besaßen. Dieser vollzog nach der Ablehnung eines Konkordatsentwurfs durch die liberal geprägte Kammermehrheit 1860 den Übergang zum parlamentarischen System, indem er die Spitzen der bisherigen liberalen Opposition ins Ministerium berief. Wenn auch die Praxis, die jeweiligen liberalen Spitzenparlamentarier in die Regierung zu berufen, nicht durchgehalten wurde, so gehörten gleichwohl bis 1918 bis auf eine Ausnahme alle badischen Staatsminister den Nationalliberalen an und hatten für diese oftmals auch lange Jahre Parlamentsmandate innegehabt.
Anders als im Reich war der Nationalliberalismus damit in Baden tatsächlich zur „regierenden Partei“ geworden. Auch profitierte die Nationalliberale Partei in ihrem Ansehen von den umfangreichen gesellschaftspolitischen Reformen, die die badischen Regierungen in den 1860er Jahren verabschiedet hatten. Hierzu gehörte u.a. die Trennung von Justiz und Verwaltung auf der unteren Ebene, die Stärkung der Rechte von Schöffen bei Strafprozessen, die Neuregelung der Gerichtsorganisation, der Abschluss der Judenemanzipation, die Einführung der Gewerbefreiheit und die Verabschiedung eines Gesetzes, das die Möglichkeiten zur Ministeranklage regelte. Am Ausgang der 1860er Jahre erfuhr die badische Verfassung eine weitere Demokratisierung, indem es zur Einführung des (nahezu) allgemeinen, gleichen und geheimen Männerwahlrechts kam. Auch erhielt der Landtag jetzt das Recht der Gesetzesinitiative und Geschäftsautonomie. Natürlich beanspruchte der badische liberale Staat durch die Einführung der fakultativen bzw. obligatorischen Simultanschule auch eine Führungsrolle in der Schulpolitik.
Mit der Krise der Nationalliberalen auf Reichsebene in den 1880er Jahren ging zeitweilig auch der Mandatsbestand der badischen Nationalliberalen zurück, 1889 konnte jedoch nochmals die Dreiviertelmehrheit der Kammersitze erobert werden. Bis 1891 besaßen die Nationalliberalen immerhin noch die absolute Mehrheit im badischen Landtag. Dabei profitierten sie von parteiinternen Streitigkeiten der Katholischen Volkspartei sowie vom Wohlwollen des Großherzogs, der bspw. 1883 die Behörden ausdrücklich dazu aufforderte, im Wahlkampf zu Gunsten der Nationalliberalen Stellung zu nehmen. Auch die Bevorzugung städtisch-protestantischer Regionen beim Zuschnitt der Landtagswahlkreise wie auch das indirekte Wahlrecht kam den badischen Nationalliberalen zu Pass. So bestand bei der indirekten Wahl die Möglichkeit durch den in der Regel nationalliberal gesonnenen Amtsvorstand die Abgeordnetenwahlen im Sinne der „regierenden Partei“ zu beeinflussen.
Mit der Reorganisation der badischen Zentrumspartei 1888 und dem Aufstieg der Sozialdemokratie ab 1890 setzte gleichwohl der Niedergang des badischen Nationalliberalismus ein. In den 1890er Jahren bildete sich eine äußerst heterogene Koalition aus Zentrum, Linksliberalen und SPD mit dem Ziel einer Wahlrechtsreform und damit verbunden dem Versuch die nationalliberale Dominanz aufzubrechen. Tatsächlich war der Druck dieser informellen Koalition auf Nationalliberale und Regierung derart groß, dass diese 1904 in eine Verfassungsreform einwilligen mussten. Nunmehr kam es zum Neuzuschnitt der Wahlkreise sowie zur Einführung der direkten Wahl. Damit war von Beginn an klar, dass die Nationalliberalen bei den kommenden Wahlen ihre Stellung als noch immer stärkste Kraft in der Kammer verlieren würden.
Der badische Großblock: Entstehung – Chancen – Scheitern
Um dem entgegenzuwirken, schlossen sich Nationalliberale und Linksliberale im Vorfeld der Landtagswahlen 1905 zum so genannten Block zusammen, konnten aber gleichwohl nicht verhindern, dass eine absolute Mehrheit der Zentrumspartei bei den Stichwahlen zu erwarten stand. Um diese doch noch zu verhindern, kam es bei den Stichwahlen 1905 erstmals zu Wahlabsprachen der liberalen Parteien mit der Sozialdemokratie, die sich als erfolgreich erwiesen: Die Zentrumspartei verfehlte die absolute Mehrheit. Gleichwohl gelang es den badischen Liberalen und Sozialdemokraten nicht, während der Legislaturperiode 1905-1909 zu einer gemeinsamen politischen Linie zu finden. Das Verhältnis zwischen Liberalen und Sozialdemokraten wurde zudem gestört, als der sozialdemokratische Landtagsvizepräsident 1907 die Teilnahme an der Beisetzung Großherzogs Friedrichs I. verweigerte.
Nicht zuletzt deshalb führten die Nationalliberalen 1909 einen Landtagswahlkampf, in dem sie sich gleichermaßen vom Zentrum wie der SPD distanzierten. Diese Strategie erwies sich jedoch als schwerer Fehler. Die Nationalliberalen konnten gerade einmal vier von 73 Mandaten bei den Hauptwahlen gewinnen, sodass sie bei den Stichwahlen erneut auf ein Bündnis mit der Sozialdemokratie angewiesen waren. Dies führte immerhin zu 13 weiteren Mandatsgewinnen, auch konnte wiederum die absolute Mehrheit der Zentrumspartei verhindert werden.
Mit Edmund Rebmann (1853-1938) an der Spitze der badischen Nationalliberalen kam es ab 1909 schließlich doch zu einer inhaltlichen Kooperation zwischen Liberalen und Sozialdemokraten: Neben der Verabschiedung einer Steuerreform gestaltete sich die Zusammenarbeit von Liberalen und Sozialdemokraten bei der Reform der Volksschule überaus eng. So wurde der Klassenteiler auf 70 Schüler begrenzt, gleichzeitig erhielten die naturwissenschaftlichen Fächer größeres Gewicht im Lehrplan. Entsprechend dem Wunsch der Sozialdemokratie wurde die Volksschullehrerausbildung verbessert, die Bezüge der Volksschullehrer erhöht und planmäßig angestellte Hauptlehrer erhielten den Beamtenstatus, was den Aufstieg in den gesellschaftlichen Mittelstand bedeutete. Schließlich investierten Liberale und Sozialdemokraten in den Bau von Schulhäusern und Turnhallen, zur Steigerung der Gesundheit der Schüler wurden jetzt erstmals Schulärzte eingestellt.
Im Bereich der Kommunalverfassung wurde auf der Gemeindeebene jetzt das Proporzwahlrecht eingeführt. Auch das in den Kommunen geltende Dreiklassenwahlrecht wurde reformiert, wobei die erste Wählerklasse zwar erhalten blieb, aber an Gewicht verlor. Überhaupt war die Gemeinde der Ort, an dem sich die Zusammenarbeit zwischen Liberalen und Sozialdemokraten fruchtbringend gestaltete. So arbeitete bspw. in Freiburg der nationalliberale Oberbürgermeister Otto Winterer (1846-1915) erfolgreich mit dem Vorsitzenden der SPD in Oberbaden Wilhelm Engler (1873-1938) zusammen. Auf Antrag Englers kam es in der Breisgau-Metropole zur Einführung eines Arbeitsnachweises und damit verbunden einer Arbeitslosenversicherung. Entsprechend dem von Engler propagierten Genter-System konnte sich jeder Arbeiter bei seiner Gewerkschaft oder auch der Stadt versichern. Dabei schoss die Stadt Freiburg eine Geldsumme in gleicher Höhe der vom Arbeiter geleisteten Beiträge zu.
Trotz dieser Erfolge geriet der Großblock 1912/1913 in die Krise. Die Nationalliberalen verweigerten sich dem Angebot der SPD, bereits bei den Hauptwahlen ein Wahlkampfabkommen zu schließen. Ein solches Abkommen hätte die Grundlage geboten, um dem Großblock im Landtag eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit zu sichern, die schließlich die Möglichkeit eröffnet hätte, in Baden an der Stelle des Mehrheitswahlrechtes das Proporzwahlrecht einzuführen. Hiervon hätten besonders die Nationalliberalen profitiert, die über nur wenige Hochburgen im Land verfügten und daran interessiert sein mussten, mit Hilfe des Proporzes auch Stimmen in ihrer Diaspora zu mobilisieren. Gleichwohl verweigerten sich die Nationalliberalen dem SPD-Vorschlag und begrenzten das Wahlkampfabkommen auf die Stichwahlen. Denn bereits seit 1905 hatte es innerhalb der badischen Nationalliberalen einflussreiche Gegner des Großblocks gegeben. Sehr geschickt hatte die badische Zentrumspartei zudem bei den Reichstagswahlen 1912 und dann auch bei den Landtagswahlen 1913 Vertreter des rechten Parteiflügels der Nationalliberalen unterstützt, sodass der Einfluss von Großblockgegnern unter den nationalliberalen Abgeordneten wuchs. Diese forderten vielmehr eine bürgerliche Sammlung gegen die Sozialdemokratie.
Aber noch aus anderen Gründen scheiterte der Großblock. Seit dem ersten Großblockbündnis hatte es bereits zwischen den Nationalliberalen und den linksliberalen Gruppierungen Auseinandersetzungen um die Vergabe vermeintlich sicherer Wahlkreise gegeben. Das Verhältnis zwischen Nationalliberalen und SPD wurde schließlich durch die Entwicklung auf der Reichsebene massiv belastet: 1913 kam es zu einer neuerlichen Heeresvorlage, die von den Nationalliberalen begrüßt, von der Sozialdemokratie dagegen abgelehnt wurde. Auch ließ sich der Großblock aufgrund der anders gearteten Sozialstruktur nicht von Baden auf das Reich übertragen. Baden war noch weitgehend agrarisch-kleinstädtisch strukturiert, der Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital weit weniger ausgeprägt als in den großen Industrierevieren des Reiches. Anders als in Baden war hier aufgrund der stärker ausgeprägten sozialen Gegensätze eine Zusammenarbeit zwischen SPD und Liberalismus im Kaiserreich nicht vorstellbar.
Literatur:
Engehausen, Frank, Kleine Geschichte des Großherzogtums Baden 1806–1918, Leinfelden-Echterdingen 2005
Gall, Lothar, Der Liberalismus als regierende Partei,
Wiesbaden 1968
Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte: 1800–1918, Sonderausgabe 3. Bde. München 1998
Thiel, Jürgen, Die Großblockpolitik der Nationalliberalen Partei Badens 1905 bis 1914, Stuttgart 1976
Willock, Mark, Die Nationalliberale Partei in Baden 1905–1913, Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft 9, 2001, 71–188