Das Sozialistengesetz – Demokratiegeschichtlicher „Sündenfall“ des deutschen Kaiserreichs?

Jürgen Schmidt

Es lässt sich zweifellos der großen Mehrheit der Abgeordneten des deutschen Reichstags zugutehal­ten, dass sie dem ersten Unterdrückungsversuch der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung im Jahr 1878 durch Otto von Bismarck eine klare Absage erteilten. Nach einem gescheiterten Attentat gegen Kaiser Wilhelm I. durch den Klempnergesellen Max Hödel brachte der Reichskanzler am 20. Mai 1878 einen Gesetzesentwurf „zur Abwehr sozialdemokratischer Ausschreitungen“ ein, der in seiner Willkür durchaus auch eine Gefahr für die bürgerlichen Parteien darstellen konnte. Mit 251 ge­gen 57 Stimmen lehnten die Reichstagsabgeordneten das Gesetz ab (Weichlein 2012, 92).

Diese Bestrebung, die politische Kraft der Arbeiterbewegung auszuschalten, war keineswegs der erste Versuch gewesen. Bereits vor Gründung des Kaiserreichs hatten der von Ferdinand Lassalle gegründete Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) und die von August Bebel und Wilhelm Liebknecht ge­gründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) unter Verfolgung und Gefängnisstrafen gelitten. Nach Gründung des Nationalstaats kam es 1872 in Leipzig zum Prozess gegen Bebel, Liebknecht und Adolf Hepner. Gegen die drei hatte die Staatsanwaltschaft den Vorwurf des Hochverrats konstruiert, weil sie sich 1870/71 im Reichstag und in den Parteizeitungen gegen die Kredite zur Durchführung des Krie­ges gegen Frankreich sowie gegen die Annexion von Elsass-Lothringen ausgesprochen hatten. Weitere juristische Schritte folgten. So ließ 1874 der preußische Obrigkeitsstaat den ADAV in Preußen auflösen und verbot dort 1876 die aus den beiden sozialde­mokra­ti­schen Parteien hervorgegangene vereinigte Sozia­lis­ti­sche Arbeiterpartei (SAP).

Als keinen Monat nach dem ersten Attentat von Max Hödel durch den in prekärer Situation lebenden Akademiker Karl Nobeling am 2. Juni 1878 erneut ein Anschlag auf den Kaiser verübt wurde, kippte in der Öffentlichkeit wie im Reichstag die Stimmung. Konservative wie liberale Zeitungen sahen eine Ver­strickung der Sozialdemokratie in das Attentat. „Weite Kreise der Nation“ befanden sich „in einem Zu­stand, der an Wahnsinn grenzte. Die Sozialdemokratie war geradezu vogelfrei“, resümierte Eduard Bernstein aus der Rückschau die Situation. Revolutionsfurcht wurde geschürt und machte sich breit. Bismarck nutzte die Gunst der Stunde, löste den Reichstag auf und ließ ihn im Juli neu wählen. In der Ausnahmestimmung war der Verlierer weniger die Arbeiterpartei als vielmehr die Nationalliberalen, die fast ein Viertel ihrer Mandate verloren. Geschockt von diesem Debakel, ließen sie ihre rechtsstaatli­chen Ideale hinter sich und schlossen sich dem antiliberalen Trend an, setzten aber durch, dass das Gesetz alle zweieinhalb Jahre dem Reichstag erneut zur Abstimmung vorgelegt werden musste. Die gegenüber dem ersten Entwurf verschärfte Fassung fand im neuen Reichstag mit 221 Stim­men der Konservativen und Nationalliberalen eine klare Mehrheit. Doch immerhin auch 149 Abgeord­nete der Linksliberalen, des Zentrums und der Sozialdemokratie votierten gegen das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“.

Trotz dieser 149 Abgeordneten, die diese polizeistaatliche Form der Bekämpfung der Arbeiterbewe­gung ablehnten, handelt es sich mit dem Inkrafttreten des Gesetzes um einen demokratiegeschicht­lichen Sündenfall. Einer der Gründungsväter der Soziologie, Ferdinand Tönnies, sprach im Rückblick von einem „bedeutenden Fall der Verfolgung und Unterdrückung aus politischen Beweggründen“. Die Konsequenzen waren enorm: Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAP), sozialdemokrati­sche Zeitungen, Vereine und Gewerkschaften wurden verboten. Mitglieder der Partei kamen ins Gefäng­nis, wurden aus ihren Heimatstädten ausgewiesen, viele gingen ins Exil ins Ausland. Zwischen 1878 und 1888 verhängten die Gerichte insgesamt 800 Jahre Haftstrafen.

Allerdings hatte diese brutale Praxis des Gesetzes keinen totalitär-vernichtenden Effekt. Zum Ersten – und zentral – setzte das Sozialistengesetz die in den Wahlgesetzen festgelegte Wahl von Einzelperso­nen nicht für Sozialisten außer Kraft. Damit konnten Sozialdemokraten, obwohl deren sozialdemokra­tische Grundhaltung bekannt war, sich in den Reichstag wählen lassen. So wuchs während des Kaiser­reichs trotz eingeschränkter Wahlkampfmöglichkeiten die Sozialdemokratie, und mit der sozialdemo­kratischen Reichstagsfraktion etablierte sich ein politisches Zentrum der Arbeiterbewegung.

Mildernd wirkte sich zum Zweiten aus, dass während der zwölf Jahre seines Bestehens das Sozialistengesetz im zeitlichen Verlauf nicht immer gleich hart und konsequent umgesetzt wurde. Zwischen 1881 und 1886 zeichnete sich gar eine „milde“ Umsetzung des Gesetzes ab. Verhaftungen und Ausweisungen wur­den selten, ehe sich wieder eine „verschärfte Praxis“ abzeichnete (Resch 2012, 104ff.). Doch schon ab Mit­te 1889 wurde deutlich, dass das Gesetz sein Bedrohungspotential verlor. Selbst in dem in Preußen gelegenen Erfurt erschien bereits ab dem 1. September 1889 die eindeutig sozialdemokratisch ausgerichtete Zeitung „Thüringer Tribüne“, die nicht mehr verboten wurde.

Drittens gab es bei den Verfolgungsbedingungen starke regionale Unterschiede. Im liberalen Südwes­ten Deutschlands, in Teilen Bayerns, aber auch in einzelnen Orten wie Essen lässt sich für die gesamten zwölf Jahre eine eher milde Praxis feststellen. In Erfurt wiederum boten sich beispielsweise die an Preußen angrenzenden thüringischen Gebiete als Rückzugsräume an. 1883 und 1884 trafen sich Erfurter und thüringische Sozialdemokraten mehrmals im Thüringischen, da in den Herzogtümern Gotha und Coburg noch Vereins- und Pressefreiheit galten. 1884 kam es so zu Übergriffen der preußischen Polizei während einer sozialdemokratischen Versammlung im thürin­gi­schen Bischleben. Irritationen zwischen Preußen und dem Herzogtum Sachsen-Co­burg-Gotha folgten. Daraufhin erließ der Land­tag Gotha-Coburgs 1884 ein Gesetz, das die „Versammlungsfreiheit für die Dauer des Sozialistengesetzes durch die Einführung einer Anmeldepflicht“ zwar einschränkte, allerdings kein generelles „polizeiliches Recht auf Versammlungsverbote“ erließ (Schmidt 2005, 52). Diese Kompetenzstreitigkeiten lagen auch an den juristischen Gegebenheiten: „Denn wenn es unklar war, wie ein Reichsgesetz auszulegen war, dann lag die Entscheidung darüber bei der Landesregierung bzw. den zuständigen Ministerien. Das hatte sich bereits bei der Umsetzung des Sozi­alistengesetzes zwischen 1878 und 1890 gezeigt“ (Freytag 2018, 186).

Schließlich zeichnete sich in der Praxis eine Unterscheidung zwischen harter Verfolgung der Partei und Mäßigung gegenüber den Gewerkschaften ab (Weichlein 2012, 96f.). So konnten beispielsweise die Buchdrucker mit der Umbenennung ihrer Gewerkschaft in „Unterstützungsverein Deutscher Buchdru­cker“ ihre gewerkschaftliche Arbeit ununterbrochen fortsetzen. Außerdem entstanden mit der milden Phase in den 1880er Jahren lokal organisierte Fachvereine einzelner Berufsgruppen. In Kassen organi­sierten sich Arbeiter und sicherten sich gegen die Risiken von Krankheit und Arbeitslosigkeit ab. Die Zahl der sozialdemokratischen Gewerkschaftsmitglieder belief sich so – bei aller Vorsicht gegenüber den erhobenen Zahlen – nach Ende des Sozialistengesetzes auf über 250.000 Mitglieder gegenüber rund 50.000 vor Beginn des Gesetzes. Streiks blieben zunächst zwar die Ausnahme; doch seit 1888 nahmen sie mit anziehender wirtschaftlicher Konjunktur zu. Allein in den drei Jahren vor Auslaufen des Sozialistengesetzes kam es zu rund 670 Streiks. Bedenkt man außerdem, dass zwischen 1881 und 1890 der Anteil der abgegebenen Stimmen für die SAP von 6,1 auf 19,7 Prozent und die Zahl der Mandate von 12 auf 35 stieg, kann – trotz aller persönlichen Schick­salsschläge – nur von einem realpolitischen Scheitern des Sozialistengesetzes gesprochen werden.

Allerdings verbanden sich mit dem Sozialistengesetz weitere Konsequenzen für die innenpolitische Entwicklung des Kaiserreichs. Zum Ersten trug die Zustimmung der Nationalliberalen zum Gesetz zur Spaltung des Liberalismus bei. Die „liberalen Zentralwerte“ (Dieter Langewiesche) wurden zerrieben. Als die Na­tio­nal­liberalen weitere Zugeständnisse zu Bismarcks Politik machten – insbeson­dere die Zustim­mung zu einem siebenjährigen Militärhaushalt –, spaltete sich eine linksliberale Gruppe ab. Diese Spaltung des Liberalismus sollte bis weit über das Ende des Kaiserreichs hinaus andauern. Darüber hinaus ging letztlich der Großteil der Arbeiterschaft beiden Flügeln des Liberalismus ver­loren.

Zum Zweiten zeichnete sich schnell ab, dass polizeiliche Willkür und juristische Verfolgung keine be­sonders erfolgreichen Strategien waren, um ein gesellschaftspolitisches Phänomen wie die Ausbil­dung einer selbstbewussten Lohnarbeiterschaft obrigkeitsstaatlichen Direktiven zu unterwerfen. Denn die Lohnarbeiterschaft und die Arbeiterbewegung speisten sich auch aus den sozialen Folgen der In­dustrialisierung. Daher wurde eine sozialpolitische Linie, die schon seit Beginn der 1870er Jahre kapita­listisch-wirtschaftsliberale Dogmen hinterfragte (Althammer 2009, 147), aufgegriffen. In Form der Sozialversicherungen gegen die Risiken von Krankheit, Unfall und Alter nahm sie Gestalt an. Entgegen der ursprüng­li­chen Intention von Bismarck einer über Steuergelder finanzierten Versicherung, ent­stand ein beitragsfinanziertes Versicherungssystem, das bis in unsere Gegenwart Bestand hat. Von den Zeitgenossen des Kaiserreichs als das „Zuckerbrot“ im Gegensatz zur „Peitsche“ des Sozialistengesetzes wahrgenommen, ist diese Entgegensetzung in der neueren Forschung zwar nicht unumstritten. Doch als eingängige Formel für den janusköpfigen Umgang mit der Arbeiterschaft und der Arbeiterbewe­gung behält sie ihre Plausibilität.

Zum Dritten verbanden sich demokratiegeschichtliche Wirkungen mit dem Sozialis­tengesetz. So wurde auf der einen Seite das „Vertrauen der deutschen Arbeiter in die Unparteilichkeit ihrer Reichsregierung“ zerstört (Anderson 2009, 359). Insgesamt blieben auch nach dem Ende des Sozialistengesetzes die Sozialdemokratie und ihre Anhänger als „Reichsfeinde“ oder „vaterlandslose Gesellen“ stigmatisiert. Ein marxistisches Verständnis von einer in Klassenkämpfe verstrickten Gesell­schaft konnte sich etablieren. Die Arbeiterschaft fühlte sich ausgegrenzt. Kompromisse in­nerhalb des Systems waren auf politischer Ebene nicht vorgesehen. Andererseits erkannte die Arbeiter­schaft und die Sozialdemokratie die große Bedeutung eines „egalitären Wahlgesetzes“ (Anderson 2009, 359f.). Neben dem sozialdemokratischen Milieu der Stadtviertel, Kneipen, Vereine und Debat­ten erhielt das Parlament eine wichtige Kommunika­tions­funktion, da dort die Möglichkeit bestand, Arbeiterinteressen zu vertreten und einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Darüber hinaus er­folgte über staatliche Sozialisationsinstanzen wie Militär und Schule, über die Einbindung in kommu­nale Aufgaben und über die Beteiligung in den Gremien der Sozialversicherungen eine politische und gesellschaftliche Integration der Arbeiterschaft und der Sozialdemokratie in das deutsche Kaiserreich. Es ist kein Zufall, dass sich mit dem Ende des Sozialistengesetzes innerhalb der Sozialdemokratie der Spielraum für eine Debatte um die Reform oder gar Revision des Marxismus öffnete.

Insgesamt nahm das Sozialistengesetz der deutschen Arbeiterbewegung die Luft zum Atmen, aber es erdrosselte den Gegner nicht. Im Gegenteil: Das Gesetz schweißte das sozialdemokratische Milieu en­ger zusammen, ließ eine schlagkräftige parlamentarische Opposition entstehen, die nach 1890 auf Po­litik, Ge­sell­schaft und Wirtschaft gestalterischen Druck ausübte. Diese nicht intendierten Folgen von Bismarcks Sozialistengesetz relativieren keineswegs den demokratiegeschichtlichen Sündenfall des Kaiserreichs und seine demokratischen Defizite. Aber sie zeigen umgekehrt die Bedeutung von politischem, zivilgesellschaftlichem Engagement sowie die Kraft parlamentarisch-oppositionellen Verhaltens gegenüber autokratisch-obrigkeitlichen Systemen – und bilden so einen Referenzpunkt bis in die Gegenwart.

Literatur:

Althammer, Beate, Das Bismarckreich 1871–1890,
Paderborn 2009

Anderson, Margaret Lavinia, Lehrjahre der Demokratie. Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich, Stuttgart 2009

Freytag, Nils, Das Wilhelminische Kaiserreich 1890–1914,
Paderborn 2018

Resch, Stefan, Das Sozialistengesetz in Bayern 1878–1890,
Düsseldorf 2012

Schmidt, Jürgen, Begrenzte Spielräume. Eine Beziehungsgeschichte von Arbeiterschaft und Bürgertum am Beispiel Erfurts 1870-1914, Göttingen 2005

Weichlein, Siegfried, Das „Sozialistengesetz“, in: Kruke, Anja/Woyke, Meik (Hg.), Deutsche Sozialdemokratie in Bewegung 1848–1863–2013, Bonn 2013, 92–97